Der heimische Regisseur Nikolaus Geyrhalter.

Foto: Heribert Corn

Die Szenen, in denen die Welt sich wieder selbst überlassen ist, strahlen Ruhe aus. Die Dinge liegen, wie in Zeitnot eilig weggeworfen, einfach herum. Oder hat sie ein äußeres Ereignis in Unordnung gebracht? Die Regale sind leer, die Maschinen außer Betrieb, im Hintergrund flattert irgendetwas im Wind. Oft hat sich die Natur den Schauplatz bereits ein Stück weit zurückerobert. Über der Verwahrlosung wächst neues Gras.

Manche Landschaften und Orte in Nikolaus Geyrhalters neuem, menschenleerem Film "Homo Sapiens" wirken wie Filmkulissen aus dem postapokalyptischen Genre, sind aber doch real.
Foto: Stadtkino

Solche Bilder kennt man aus der Welt der Science-Fiction, aus postapokalyptischen Erzählungen wie Planet der Affen, Mad Max oder der Cormac-McCarthy-Adaption The Road, vielleicht noch aus den dystopischen Szenarien des Taiwanesen Tsai Ming-Liang.

In Nikolaus Geyrhalters jüngstem Film Homo Sapiens, der am Freitag auf der Berlinale seine Weltpremiere feiert, sind sie jedoch real. In knapp über eineinhalb Stunden entwirft der österreichische Dokumentarist das Panorama einer Welt, welcher die Menschen abhandengekommen sind. Was bleibt übrig, wenn es uns nicht mehr gibt? Ein verführerischer Gedanke.

Abwesenheit

"Ich wollte Orte zeigen, die Menschen geschaffen haben und denen man das auch ansieht", erzählt Geyrhalter im STANDARD-Interview. "Ich sage bewusst nicht, dass es ein Zukunftsszenario ist. Man kann sich das denken – es ist auch so angelegt. Entscheidend ist jedoch, dass alle diese Orte auch in der Gegenwart existieren. Es ist ein Film, der die Menschheit durch ihre Abwesenheit porträtiert."

Es ist nicht das erste Mal, dass Geyrhalter zu Orten fährt, nachdem sich dort etwas zugetragen hat. In Das Jahr nach Dayton (1997) oder in seinem Tschernobyl-Dokumentarfilm Pripyat (1999) ging es um die Vermessung eines Schauplatzes, an dem das mediale Interesse wieder abgeflaut ist. Noch in seinem letzten Film Über die Jahre, im Vorjahr auf der Berlinale, steht das Leben nach der Arbeit im Mittelpunkt: Menschen im Waldviertel, die aus der geregelten Beschäftigung in die diffuse Nichtzeit der Arbeitslosigkeit übergewechselt sind.

Zerstörung, Krieg

Homo Sapiens radikalisiert dieses Prinzip nun, indem er sich von einer lokalen Beschränkung löst. "Wir haben versucht, viele Bereiche menschlicher Aktivitäten abzudecken. Ich wollte durchaus auf so etwas wie die Grausamkeit des Menschen hinweisen, auf seine Zerstörungskraft, auf Kriege, die Unterwerfung der Tiere. Die Bilder sollen in der Rückschau bestimmte Geschichten erzählen", erklärt Geyrhalter.

Gerade der erste Teil spannt anhand diverser Schauplätze einen Fächer menschlicher Bedürfnisse auf: Arbeitswelten, Einkaufsorte, Spitäler, ein Kino oder ein Vergnügungspark – über allem liegt die Melancholie einer unwiderruflichen Vergänglichkeit.

Enzyklopädie von rückwärts

"Es ist in gewisser Weise eine Art Enzyklopädie, aber eben von hinten erzählt. Grob gesagt gibt es zwei Stränge: Zuerst steht das Wirken des Menschen im Zentrum, danach mehr die Orte selbst. Naturaggregate, der Sand, das Wasser, der Schnee. Der Film wird offener, am Ende geht es nur noch ums Ausatmen und Loslassen."

Die Recherche der Orte, die auch im Abspann bewusst nicht benannt wurden, war in diesem Fall besonders aufwendig. Während man etwa die Verwüstungen von Fukushima noch identifizieren kann, ist man an anderen Stellen verblüfft über die irreale Qualität der Szenerien. Hilfreich war dabei die Urbex-Szene, eine Bewegung von Fotografen, die auf desolate und verlassene urbane Orte spezialisiert sind. An deren Motiven konnte man sich orientieren, allerdings gehört es zum Ethos dieser Subkultur, Fundorte nicht preiszugegeben. "Die Orte dann wirklich zu finden, die Rechte und Zugänge zu bekommen war schwierig", so Geyrhalter: "Und ohne die Orte gäbe es den Film nicht."

Kein Dokumentarfilm im klassischen Sinn

Abgesehen davon verdankt sich ein wesentlicher Teil seiner Wirkkraft dem Sounddesign, das den Zuschauer körperlich einbezieht. Geyrhalter hat sich der erst 2012 eingeführten Technik von Dolby Atmos bedient, die ein größeres Surround-Erlebnis erlaubt. "Der Ton ist komplett gebaut, weil es nicht möglich war, Töne aufzunehmen, in denen im Hintergrund kein Auto fährt oder kein Hund bellt. Die große Herausforderung bestand darin, Töne zu finden, die wirklich clean sind und damit die Bilder beleben."

Geyrhalter bezeichnet Homo Sapiens deshalb auch als "keinen Dokumentarfilm im klassischen Sinn": "Ich habe schnell gemerkt, dass ich bei diesem Film anders arbeiten muss, um meine Geschichte zu erzählen." Eine Szene mit Server-Racks wurde inszeniert. An anderer Stelle hat man mit Wind nachgeholfen.

Fast heiliger Prozess

"Es ging darum, den Einfluss der Natur, den man nicht sieht, hörbar und spürbar zu machen." Der Zugriff der Natur sei ein fast heiliger Prozess, sagt Nikolaus Geyrhalter: "Ich finde, das hat etwas sehr Beruhigendes." Auch das vermittelt dieser außerordentliche Film. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, 10.2.2016)