"Man muss auf alles gefasst sein", sagte in einem STANDARD-Interview über die Zukunft Russlands der kluge Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, der kürzlich mit der mutigen russischen Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa eine gemeinsame Analyse ("Der Russland-Reflex") veröffentlich hat. Der deutsche Zeithistoriker gehört zu jenen seltenen Experten, die bereit sind, ihre eigenen Fehldeutungen oder viel zu optimistischen Urteile öffentlich richtigzustellen. Angesichts der bedrohlichen Weltlage und der Flüchtlingskrise sind die Stimmen der unabhängigen und kenntnisreichen Experten und Publizisten heute wichtiger denn je seit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks.

Deshalb ist es zum Beispiel beeindruckend, wie ein konservatives Weltblatt, die Frankfurter Allgemeine, trotz der Exportinteressen der deutschen Industrie das Trauerspiel der beiden bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer und dessen Vorgängers Edmund Stoiber bei ihrem Moskau-Besuch am Mittwoch mit beißendem Spott in vernichtenden Berichten bloßgestellt hat. So seien Seehofers Lob für das "noble Verhalten Putins in der Flüchtlingsfrage" und seine eigenen Erörterungen von der Nachricht überlagert, dass Russlands Offensive in Syrien zehntausende Zivilisten gezwungen habe, die zerstörte Region Aleppo zu verlassen. "Stoiber und Seehofer haben ihre Reise punktgenau in das ziemlich schmale Zeitfenster geschafft, indem sie die eigene Blamage auf ein Höchstmaß treiben konnten." Dass Moskau die angebliche Vergewaltigung eines 13 Jahre alten Mädchens ausnützt, um die in der Bundesrepublik lebenden Russlanddeutschen mit Desinformationen gegen den deutschen Rechtsstaat und persönlich gegen Bundeskanzlerin Merkel aufzupeitschen, trug ebenso zur Empörung der deutschen Medien bei wie die von russischer Seite gelobten "pragmatischen Motive" Seehofers bei der Untergrabung der Sanktionspolitik des Westens in der Ukraine-Frage.

Im Gegensatz zu den "bayerischen Liebesgrüßen aus Moskau" (so die FAZ) hat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), den "brutalen Zynismus" der Moskauer Politik verurteilt. Der Kreml wolle die Opposition zum Assad-Regime "wegbomben" und danach das Angebot machen, gemeinsam gegen die IS-Terrorbande vorzugehen: "So will sich Moskau für die Lösung eines Konflikts anbieten, den er selbst mit geschaffen hat."

Einen ähnlichen Kurs steuert der türkische Präsident Erdogan, der den Westen sowohl im Kampf gegen die IS-Terroristen wie auch (zumindest bisher) in der Flüchtlingsfrage an der Nase herumgeführt hat. Der Autokrat, der kritische Journalisten einsperrt und die Justiz aushöhlt, führt selber lieber einen Krieg im eigenen Land gegen die Kurden als gegen den IS. Die türkischen Behörden hindern die Flüchtlinge (trotz eines Abkommens mit Griechenland) nicht daran, in die EU zu gelangen. Erdogan und Putin sind sich nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges über die syrische Grenze zwar spinnefeind geworden. Trotzdem ist ihre zynische und heuchlerische Politik ähnlich: Durch die russischen und türkischen Militäroffensiven steigt die Zahl der Flüchtlinge nach Deutschland (und auch Österreich) unaufhaltsam weiter. (Paul Lendvai, 8.2.2016)