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Wien – Dass einige der vierjährigen Bundesoberstufenrealgymnasien (Borg) bei der Zentralmatura deutlich schlechter abgeschnitten haben als die achtjährigen Gymnasien, überraschte Expertinnen und Experten nicht wirklich. Die neue Reifeprüfung brachte nur die Dringlichkeit dieses Problems ans Licht. Ungeachtet dessen, dass das Bildungsministerium Daten für die Ergebnisse der zwei AHS-Formen zurückhält, was nicht nur der Salzburger Bildungswissenschafter Günter Haider scharf kritisiert.

Kritik an geheimen Maturadaten

Auch Heidi Schrodt, Vorsitzende der Initiative "Bildung grenzenlos", versteht diese Geheimhaltung nicht: "Alle Zahlen sollten der Öffentlichkeit zugänglich sein", sagt sie zum STANDARD.

Was man weiß, weiß man dank Haider, der im STANDARD seine Recherchen über Kärnten und Salzburg vorlegte. In den Borgs gab es dort bei den schriftlichen Klausuren im Schnitt dreimal so viele Fünfer wie in der AHS-Langform.

Land-Stadt-Gefälle

Wie kann das sein? Schrodt, frühere langjährige Direktorin der AHS-Rahlgasse in Wien, betont, man müsse "sehr stark differenzieren zwischen einem Borg am Land oder im städtischen Bereich". Waren sie am Land ursprünglich für Regionen ohne AHS-Langform gedacht, "waren die Borgs in Städten naturgemäß immer schon eher für schwächere Schüler, AHS-Abbrecher sind gern dorthin gewechselt".

Seit es nun "Migration in größerem Ausmaß" gebe, kämen immer mehr Kinder, "die durchaus AHS-reif sind, aber noch nicht genug Deutsch können, in die Borgs, und die verschleppten Deutschkenntnisse und damit verbundene andere Defizite zeigen sich jetzt eben bei der Zentralmatura."

"Am Schluss ist es peinlich"

Wie aber landen diese Kinder überhaupt in der AHS-Oberstufe? "Nicht selten mit geschenkten Noten", sagt Schrodt: "Das ist ein offenes Geheimnis." Dass Lehrerinnen und Lehrer Noten "herschenken", sei ja oft "gut gemeint, aber auch ein Ausdruck der Hilflosigkeit in diesem System". Für ihr Buch "Sehr gut oder Nicht genügend? Schule und Migration" hat Schrodt Lehrerinnen und Lehrer interviewt. Eine Borg-Lehrerin aus Wien berichtete Folgendes: "Es werden hier bei den LehrerInnen so viele soziale Muster aktiviert, dass sie in ein Sozialprogramm hineinfallen, wo die Leistungsebene immer mehr hinausfällt. Und am Schluss ist es so peinlich, dass du gar nicht mehr darüber reden willst."

Dieses informelle "Sozialprogramm" beginnt schon sehr früh. Noten sind de facto nicht mehr aussagekräftig. Eine befragte Lehrerin wird im Buch so zitiert: "Schon die Volksschulnoten stimmen nicht. Und 'Sehr gut' in der Hauptschule haben mit 'Sehr gut' in der AHS nichts zu tun." Das ziehe sich dann natürlich weiter bis in die höheren Klassen der berufsbildenden und allgemeinbildenden Schulen, sagt Schrodt: "Auch die Matura betrifft es immer öfter." Die aktuelle Zentralmaturadebatte bildet das ab.

Kein Gesamtkonzept für Schulsystem

Das Grundübel sieht Schrodt darin, dass es in Österreich kein Gesamtkonzept gebe, wie das Schulsystem mit Kindern ohne Muttersprache Deutsch umgehen soll. In Deutschland haben Städte wie Hamburg elaborierte Konzepte für konkrete Schülergruppen – zum Beispiel, wie man einen 13-jährigen afghanischen Analphabeten einschult.

Was also tun? Bildungswissenschafter Haider nannte als eine mögliche Maßnahme die Verlängerung des Borgs um ein Jahr auf fünf Jahre – wie vor langen Zeiten üblich –, um diesen Schülerinnen und Schülern eine faire Chance bei der Zentralmatura zu geben.

Übergangstufe ins Borg

Schrodt hingegen hält sehr viel von einer "Übergangsstufe", wie sie das Borg 3 im dritten Wiener Bezirk eingeführt hat – laut Homepage speziell für Jugendliche "mit punktuellem Förderbedarf". Ihnen soll dieses Jahr "den Übertritt in die Oberstufe erleichtern".

Aktuell werde dort an einer flexiblen Übergangsstufe gearbeitet, um auch einen Borg-Einstieg während des Jahres zu ermöglichen. "Die Übergangsstufe ist für die städtische Problematik besser, weil manche Jugendliche das gar nicht brauchen", sagt Schrodt, für die aber ein anderer Punkt "oberste Priorität" hat: "Benachteiligte Standorte müssen mehr Ressourcen erhalten als bisher."

AHS-Gewerkschaft will mehr Geld für Borgs

Ähnliches will AHS-Lehrergewerkschaftschef Eckehard Quin: "Man muss den Borgs zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellen, zum Beispiel in den Schularbeitsfächern eine Stunde mehr. Man kann nicht hergehen und in die Neue Mittelschule viel Geld investieren und dann deren Absolventen, die sich für ein Borg entscheiden, im Regen stehen lassen, weil es plötzlich vorbei ist mit der Förderung. So kann ein eventuell vorhandener Leistungsrückstand nicht ausgeglichen werden."

Neos für Schulkooperationen

Von den Neos kommt ein anderer Vorschlag: Neos-Lab-Direktor Josef Lentsch plädiert in seinem Blog für "Social Impact Bonds für Schulkooperationen". Nach britischem Vorbild sollten "stärkere" Schulen mit "schwächeren" kooperieren und deren Fortschritt unterstützen – inklusive finanzieller Anreize aus einer gemeinnützigen Bildungsstiftung. (Lisa Nimmervoll, 5.2.2016)