Am 5. Februar 1916 ging es los. Und zwar in der Spiegelgasse 1 im Herzen Zürichs. Das "Cabaret Voltaire" – anfangs nannte man es schlicht "Künstlerkneipe" – wurde von einem Häufchen Künstlern gegründet. Man las Texte von Franz Werfel, man spielte Klavier, auch das Chanson von Erich Mühsam Der Revoluzzer wurde zum Besten gegeben. Es gab französische und russische Soireen – wobei die Russen kräftig mitsangen – und der bejahrte Heimatdichter J. C. Heer torkelte zuzeiten durch die Reihen. Lenin wohnte um die Ecke. Und dann fiel der Name "dada". Die Kinder können's brabbeln, die Slawen meinen damit ein sinnfälliges "Jaja", den Franzosen ist es ihr "Steckenpferd". Allerdings hatte die Zürcher Toilettenartikelfirma Bergmann & Co "Dada" als Namen für ihre Produkte zuvor registrieren lassen: die Lilienmilchseife mit dazugehöriger "Lilien-Crème Dada" und Dada als "haarstärkendes Kopfwasser".
Hugo Ball, der Mitgründer von Dada-Zürich, hat dies auch vermerkt: "Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt." Doch dieser Scherz hatte für Ball ein bitteren Nebengeschmack: "Heute sah ich ein Schuhputzmittel mit der Aufschrift 'Das Ding an sich'. Warum hat die Metaphysik so viel Achtung verloren?" Dada gibt als multipler Bedeutungsträger Sinn so viel man will – und Unsinn. Dada ist das metaphysische Gelächter über eine Welt, die kein Sinn mehr zusammenhält.
Zürich im Ersten Weltkrieg – das war eine Stadt, die von Emigranten aller Herren Länder bevölkert war. Und ob sie nun mehr oder weniger Geld in der Tasche hatten, sie alle wollten unterhalten werden. Cabarets, Tingeltangel gab es genug, das Cabaret Voltaire war nur eines unter anderen. Eben doch nicht! Dieses Dada-Cabaret war von Anfang an eine internationale Nummer. Die Gründer kamen aus Deutschland, Ball, Emmy Hennings, Richard Huelsenbeck, aus Rumänien Tristan Tzara und Marcel Janko. Hans Arp war Elsässer, die einzige Schweizerin: Sophie Taeuber. Literatur und Bildende Kunst hielten sich von Anfang an die Waage.
Zwischen Sinn und Unsinn
Die Dadaistentruppe tanzte mit abstrakten Masken im Gesicht. In der Galerie Dada stellte Arp seine Fundstücke aus und seine Bilder, geformt nach den "Gesetzen des Zufalls". Man las "Simultangedichte", es gab Lautgedichte, etwa die von Hugo Ball: "gadji beri bimba / glandridi lauli lonni cadori" sang er im Kirchenstil und ließ sich in einem kubistischen Kostüm von der Bühne tragen.
Verklärend verstört zwischen Sinn und Unsinn ist diese Welt im Angesicht des Krieges und was diese Welt noch zusammenhält, ist dada. Man kann das auch anders und mit Walter Serner sagen, dem "Altösterreicher" unter den Dadaisten. In Karlsbad geboren und in seiner Jugend Verehrer von Karl Kraus und Kokoschka schloss sich Serner 1918 den Zürcher Dadaisten an und schlug gemeinsam mit Tristan Tzara eine härtere, existentialistische Gangart ein.
Bekannt ist aus seinem Manifest Letzte Lockerung der Satz: "Lust ist der einzige Schwindel, dem ich Dauer wünsche." Aber ganz und gar dadaphilosophisch wird es, wenn es heißt: "Kein System haben wollen, ist ein neues."
Als der Weltkrieg vorbei war, war das auch das Ende für Dada-Zürich: Die Emigranten kehrten heim, in den Cabarets gingen die Lichter aus. Doch Huelsenbeck hatte schon 1917 Dada nach Berlin gebracht. Gemeinsam mit Raoul Hausmann, Johannes Baader, George Grosz, Walter Mehriing, John Heartfield, Hannah Höch und anderen gewann Dada auch hier an Terrain. Das Klima war in Berlin ein anderes: Das Kaiserreich brach zusammen, die Weimarer Republik stand auf tönernen Füßen. Vieles ist zum Weinen, doch Dada ist zum Lachen da. Dada ist provokativ, will aufrütteln, weil die Masse Mensch im Dämmerzustand ein gefährliches Untier ist. Strategien dazu gab es in Dada-Berlin genügend: Das politische Kabarett, die Einbindung von Werbeslogans und Typographie in die Dada-Texte, das Lautgedicht, das man auch als Plakat drucken kann, Bild-Collagen und Montagen. Und dann, wie auch in Zürich, das Manifest, dessen radikaler Inhalt dem Bürger schonungslos den Ist-Zustand der Welt vor Augen führt.
Alles ist möglich, vor allem wenn im Nachkriegsdeutschland nicht nur das Geld nichts wert ist, sondern auch die tradierten Weltanschauungen. Folgerichtig lautet der Dada-Aufruf: "Legen Sie Ihr Geld in dada an! Dada ist die einzige Sparkasse, die in der Ewigkeit Zins zahlt." Es war dann der Rumäne Tristan Tzara, der nach dem Ende der Zürcher Aktivitäten Dada nach Paris brachte, gemeinsam mit dem Hispano-Franzosen Francis Picabia. André Breton und der Kreis seiner jungen Dichter adaptierten Dada jedoch bald für ihre Bestrebungen: Mit Siegmund Freud im künstlerischen Handgepäck ging es ihnen um das Unbewusste, den Traum, um das "automatische Schreiben".
Und dennoch: Bei allen Unterschieden in den einzelnen Dada-Zentren gibt es doch eine große gemeinsame Sache, für die alle Dadaisten einstanden: Der Kampf gegen eine falsch verstandene Vernunft, die als Technik und Fortschritt die Welt beherrscht und damit diese in den Ruin treibt.
Der Wahnsinn des Ersten Weltkrieges eröffnete den Freiraum für eine "Kunst ohne Sinn", wie es Hans Arp ausdrückte. Oder anders und mit Walter Serner gesagt: "Man muss das gänzlich Unbeschreibliche, das durchaus Unaussprechbare so unerträglich nah heranbrüllen, dass kein Hund länger so gescheit daherleben möchte, sondern dümmer. Dass alle den Verstand verlieren und ihren Kopf wiederbekommen." Der Kopf, das heißt Lust auf das Spiel mit der Kunst und dem Leben haben, Lust auf die Lust haben, nicht Mitläufer , sondern etwas anders sein, wehrhaft sein, niemals Schlachtvieh sein. Ergo: Einfach dada sein.
Nach 1945 haben einige Gruppierungen vieles von Dada übernommen: Fluxus, Happening, zum Teil die Pop Art. Auch die Konkrete Poesie und die Wiener Gruppe sind ohne Dada nicht zu denken. Aber wie kann man sich heute orientieren? Einige Publikationen helfen weiter. Martin Mittelmeier geht in seinem Buch Dada. Eine Jahrhundertgeschichte der Bewegung auf vielschichtige Weise nach. Er holt Figuren ins Boot, die Dada von außen betrachten, etwa Harry Graf Kessler.
Mittelmeier lässt sich aber auch genau auf die Lebens- und Kunstpositionen der einzelnen Dadaisten ein, besonders auf Hugo Ball und Hans Arp. Gut lesbar und stets informativ will Mittelmeier zeigen, dass "die Dadaisten das Jahrhundertmatch ,Wir gegen die Welt' angepfiffen haben, ein Match, das keineswegs vorbei ist."
Im Zürcher Kunsthaus ist die große Dada-Schau Dadaglobe. Reconstructed zu sehen. Zur Ausstellung ist auch ein wunderbarer Katalog erschienen. "Dadaglobe" sollte eigentlich 1921 realisiert werden, um alle Dadaisten und ihre Kunstprodukte vorzustellen. Die Rekonstruktion dieses Unternehmens ist in Dadaglobe. Reconstructed in Wort und Bild bestens gelungen – eine Abenteuerreise in die Dada-Welt!
Das will in bescheidenerer Weise auch der Dada Almanach aus dem Manesse Verlag leisten. Denn hier geht es in der Hauptsache um die Literatur von bekannten und weniger bekannten Dadaisten. Dieser Almanach ist in rot und schwarz gehalten und wartet mit typographischen Finessen auf. Zuletzt sei noch auf den Reclam-Band Dada total verwiesen, der eine kleine Auswahl von Dadaisten und ihren Texte bringt – sei es in Zürich, Berlin, Paris oder in Tirol, wo einige Dadaisten 1921/22 Kurzurlaube verbrachten.
"Dada wurde in einem Lexikon gefunden, es bedeutet nichts. Dies ist das bedeutende Nichts, an dem nichts etwas bedeutet. Wir wollen die Welt mit Nichts ändern, wir wollen die Dichtung und die Malerei mit Nichts ändern und wir wollen den Krieg mit Nichts zu Ende bringen. Es lebe Dada. Dada, Dada, Dada", krächzt Richard Huelsenbeck seinem Publikum entgegen. Dada ist Martin Heidegger auf verschlungenen Wegen nahe. Heidegger murmelte in seinen Oberlippenbart: "Das Nichts nichtet." Da Dada alles und nichts und auch das Gegenteil sein kann, gilt: Dada ist der existentialistische "Platzhalter des Nichts" – und verschafft sich Platz mit einem gewaltigen metaphysischen Rülpser. (Andreas Puff-Trojan, Album, 9.2.2016)