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Der Fischer Stratis Valiamos rettete immer wieder Flüchtlinge vor Lesbos. Er ist stellvertretend für die Inselbewohner als eine von drei Personen für den Friedensnobelpreis nominiert.

Reuters / Giorgos Moutafis

In einem Olivenhain vor dem Dorf Kato Tritos haben die Behörden einen Friedhof für die toten Flüchtlinge angelegt.

M. Bernath

Wegweiser für die Flüchtlinge: Busse bringen die Flüchtlinge auf Lesbos in das Sammellager Moria zur Registrierung. Fährtickets nach Athen werden nur gegen Vorlage der Registrierung verkauft.

M. Bernath

Eines von zwei Camps freiwilliger Helfer am Strand von Skala Sikamnias im Norden von Lesbos. Flüchtlinge werden dort mit Essen und Kleidung versorgt.

M. Bernath

Skala Sikamnias ist ein winziges Fischerdorf, ein pittoreskes Hafenbecken mit bunt herausgeputzten Steinhäusern und einem langen Strand, den die Helfer die "sichere Landezone" nennen. Denn zum Schwimmen und In-der-Sonne-Liegen kommt hier niemand mehr. Skala Sikamnias an der Nordspitze von Lesbos ist das Eingangstor der Flüchtlinge. Der größte Exodus seit dem Zweiten Weltkrieg geht hier durch. Vier Millionen warten noch drüben auf der türkischen Seite, glaubt Apostolos, einer der Griechen auf der Insel, die sich mit Leib und Seele der Rettung der Bootsflüchtlinge verschrieben haben. Vier Jahre wird das noch so gehen, sagt er. Vielleicht auch länger.

Sicherheiten gibt es nicht auf Lesbos. Nur die eine: Der Strom der Flüchtlinge wird nicht abreißen. "Wir können nichts dagegen tun", sagt Apostolos' Freund und Chef, der Tavernenbesitzer Evangelis. "Wir sind hier, um sie zu schützen und ihnen zu helfen." Beide Männer waren von Anfang an dabei. Die Schlauchboote sehen sie bei Tageslicht schon von ihrer Taverne aus kommen, einen Steinwurf entfernt vom Strand. Diese Woche hat für sie ruhiger begonnen. Die griechische Küstenwache und Frontex, die Grenzschutzbehörde der EU, sind nun sehr viel aktiver und retten die Flüchtlinge bereits auf offener See aus den Schlauchbooten. 413 Menschen waren es am Dienstag allein auf einem Schiff der Küstenwache.

Schwarze Tinte

Apostolos war einer der Ersten, die im vergangenen Jahr im großen Stil Kleidung und Lebensmittel organisierten, als der Ansturm begann. 30, 35 Boote am Tag, weit mehr als tausend Menschen waren es dann im Oktober, dem Monat mit den bisher meisten Flüchtlingen in Skala Sikamnias. Der 40-Jährige lässt sich jetzt mit schwarzer Tinte Szenen von den immer wieder neuen Rettungen im Wasser auf die Arme tätowieren. Er hat zu viele tote Kinder gesehen, sagen seine Freunde.

Mit dem Tod von Aylan Kurdi, dem dreijährigen syrischen Buben, der Anfang September ertrank und an der türkischen Küste angespült wurde, wandelte sich auch das Bild auf Lesbos. Dutzende Hilfsorganisationen und Mitstreiter spontan gebildeter Initiativen kamen auf die Insel, vom amerikanischen Evangelistenverein Samaritan's Purse bis zu den Anarchisten aus dem Athener Stadtteil Exarchia.

Mahnmal-Projekt

Auch Ai Weiwei, der chinesische Künstlerdissident, fehlt nicht. Vergangene Woche legte sich der schwergewichtige Mann für ein Foto auf einen Kiesstrand in Lesbos, das Gesicht mit den geschlossenen Augen dem Betrachter zugewandt, in der Pose, wie Aylan Kurdi gefunden wurde. 14.000 rote Schwimmwesten haben die Behörden dieser Tage von den Stränden aufgesammelt, meist unbrauchbare Stoffwesten, die Flüchtlinge in der Türkei vor ihrer gefährlichen Überfahrt kaufen und die sich mit Wasser vollsaugen, kentert einmal das Boot. Ai Weiwei braucht sie für ein Mahnmal, das er in Berlin errichten will. "Lesbos ist nicht die Grenze", sagt er, "die Grenze ist in unseren Köpfen."

Lesbos ist keine reiche Insel und eigentlich auch keines der ganz großen Touristenziele in Griechenland. Die Schornsteine der Olivenpressen rauchen in diesen Tagen überall auf der Insel, der drittgrößten in der Ägäis nach Kreta und Euböa. Jetzt, ein halbes Jahr nach dem Beginn des großen Flüchtlingsstroms und noch mitten im Winter, wird deutlich, welch ein ungewöhnlicher Ort Lesbos geworden ist. Jeden Tag werden an die 2.000 Menschen – weiterhin vor allem Syrer und Afghanen – über die Insel in Lager gefahren, registriert und an einem der folgenden Abende auf die Fähre nach Piräus gesetzt. Es gibt Wegweiser auf Arabisch zu den Bushaltestellen, Imbissbuden vor den Lagern, Verkäufer der griechischen Mobilbetreiber, die an ihren Ständen Sim-Karten um zehn Euro anpreisen.

"Jeder arbeitet"

Cafés und Restaurants sind voll, Hotels ausgebucht, die meisten Mietwagen verliehen über Wochen und Monate. Das NGO-Volk, die Flüchtlingshelfer der Uno, die Polizisten aus Europa, die für Frontex arbeiten, die Journalisten und natürlich die Flüchtlinge – sie alle wollen versorgt sein und geben Geld aus. Am "Delicious Corner", einem Imbiss direkt gegenüber der Ablegestelle der Fähren, brummt das Geschäft mit Sandwiches und Frittiertem. Selbst ein "Damaskus"-Restaurant gibt es mittlerweile am Hafen, eher für das Personal der Hilfsorganisationen als für die vielen jungen Männer aus Nahost mit ihren Rucksäcken. Ein Ausgleich für die Touristen, die im Winter sowieso nicht kommen? "Es ist eigentlich viel besser", sagt Anna Anastasiou, eine Mitarbeiterin in einem Reisebüro am Hafen von Mytilini, der Hauptstadt der Insel: "Alles ist offen, jeder arbeitet."

Im vergangenen Jahr um die Zeit war sich Anna nicht mehr sicher, ob sie ihren Job noch behalten würde. Jetzt verkauft sie jeden Tag Tickets an die Flüchtlinge. 45 Euro kostet ein Sitz auf der Fähre nach Piräus, manche syrische Familien buchen eine Kabine zum dreifachen Preis. Andere, die einen Reisepass haben und Geld, fliegen gleich nach Athen. Auch den Bus zur Grenze nach Mazedonien kann man bei Anna buchen. Für weitere 50 Euro steht man im Handumdrehen am Übergang in Idomeni. Dort beginnen allerdings die nächsten Schwierigkeiten. Die mazedonischen Grenzer lassen nur noch Flüchtlinge aus den Kriegsländern Syrien, Irak und Afghanistan auf den Weg in die EU, und auch das nur fallweise.

Eine Stunde Fahrt

Lesbos ist die Durchgangsstation für die Hoffnungsvollen und die Chancenlosen. Iyad zählt wohl zu den Letzteren, und wahrscheinlich weiß es der junge Pakistaner selbst. Er wolle nun erst einmal nach Athen und dann weitersehen, sagt der 25-Jährige. In Athen gibt es eine große pakistanische Gemeinschaft. Knapp eine Stunde habe die Überfahrt im Schlauchboot von der türkischen Küste gedauert, berichtet Iyad. 25 Passagiere pferchten die Schmuggler in das sechs Meter lange Boot, erzählt er. Irgendeiner bediente den Außenbordmotor.

Acht Kilometer trennen Lesbos von der türkischen Küste. Nachts glitzern die Lichter von Behramkale, dem antiken Assos, und von Ayvalik. Doch die Entfernung ist nicht zu unterschätzen. Auch wenn die See auf türkischer Seite ruhig scheint, wühlt der Wind aus Norden auf halber Strecke das Meer auf, sagen die Fischer auf Lesbos. Für die Passagiere, die nur knapp über dem Wasser in ihren überladenen Schauchbooten nach Lesbos steuern, wird das schnell gefährlich. Die Kälte auf offener See in dem ungeschützten Boot setzt den Flüchtlingen zusätzlich zu. Immer wieder gibt es Todesfälle durch Herzstillstand, berichten die Helfer auf Lesbos.

"Innere Schönheit"

Lesbos ist nun nominiert für den Friedensnobelpreis, der im Herbst vergeben wird. Genauer gesagt, der Fischer Stratis Valiamos, die Pensionistin Emilia Kamvisi und die Hollywood-Schaupielerin Susan Sarandon, die vergangenen Dezember auf die Insel kam. Es ist ein repräsentatives Spektrum der Unterstützer in dieser Krise, sagt Spyros Gladinos, der Bürgermeister von Mytilini. "Lesbos ist von Natur aus eine wunderschöne Insel", erklärt Gladinos. "Aber mit dem Management dieser Flüchtlingskrise haben die Bewohner von Lesbos ihre innere Schönheit gezeigt, durch ihre Toleranz, ihr Mitgefühl, ihre Solidarität. Diese Krise hat das Beste in uns hervorgebracht." (Markus Bernath aus Mytilini, 3.2.2016)