Plakate in Marseille bewerben ein Twarab-Konzert in der südfranzösischen Stadt. Seit 20 Jahren ist dieser Musikstil mit Einflüssen aus Ägypten, von der arabischen Halbinsel und aus Indien dort bei Konzerten zu hören, die eine wichtige soziale Funktion für Zuwanderer spielen.

Foto: Birgit Englert

Die Gruppe Afropa verarbeitet in Texten Trennung durch Kolonialismus: Ali Cheikh Mohamed (li.) und Abdoulwahab Chaharani (re.).

Foto: Andrés Carvajal

Marseille/Wien – Samstagnacht ist Twarab-Nacht in Marseille. Twarab ist eine seit gut 20 Jahren in der südfranzösischen Hafenstadt regelmäßig zur Aufführung gebrachte Musikrichtung mit Einflüssen aus Ägypten, von der Arabischen Halbinsel, aus Indien, Europa und Ostafrika. Mit diesen wöchentlichen Musikevents pflegen komorische Vereine ihre Verbindung zur alten Heimat. Welche Bedeutung populäre Musikstile wie dieser für Identitätskonstruktionen in der Diaspora spielen, wird aktuell in einem interdisziplinären Projekt, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird, an der Uni Wien erforscht.

Orte der Zusammenkunft

Seit der Dekolonisation der Komoren ist Marseille zentrales Migrationsziel für Menschen aus dem wenig bekannten Inselstaat im Indischen Ozean – der französisch-komorische Anteil an der Bevölkerung wird auf rund zehn Prozent geschätzt. Die Twarab-Konzerte haben eine wichtige soziale und kulturelle Funktion als Orte der Zusammenkunft von Mitgliedern der jeweiligen Vereine und darüber hinaus auch eine bedeutende finanzielle Dimension.

"Bei den Konzerten in Marseille werden regelmäßig Spenden für Bildungs- und Infrastrukturprojekte auf den Komoren gesammelt", sagt Projektleiterin Birgit Englert vom Institut für Afrikawissenschaften der Uni Wien. "Trotz seiner Bedeutung für einen nicht ganz kleinen Anteil der städtischen Bevölkerung steht die Musikrichtung des Twarab jedoch völlig außerhalb des französischen Kulturmarktes und wird auch von der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen", ergänzt Projektmitarbeiterin Katharina Fritsch.

"Wir entschieden uns für zwei Inselstaaten am Rande Afrikas, weil von beiden besonders hohe Bevölkerungsanteile nach Europa emigrieren", sagt Englert. Neben den Komoren sind das die Kapverden, von wo aus viele Menschen nach Lissabon gehen. Beide Staaten waren bis 1975 Kolonien: die Kapverden von Portugal, die Komoren von Frankreich. Eine Insel der Komoren, nämlich Mayotte, ist bis heute französisches Staatsgebiet.

Erste Ergebnisse der Fallstudie in Marseille können die Forscher bereits präsentieren. So zeigte sich beispielsweise, dass für die ältere Generation der Twarab den kulturell und sozial wichtigsten Musikstil darstellt. Für die Jüngeren spielen wie für die meisten Jugendlichen mit Migrationshintergrund Hip-Hop und Rap eine zentrale Rolle. Einige jüngere französisch-komorische Musiker sind wichtige Vertreter dieser Musikrichtungen, etwa Soprano, einer der gegenwärtig populärsten Rapper in Frankreich, oder der Slam-Künstler Ahamada Smis. "Beide Künstler verhandeln in ihren Texten Vorstellungen von 'komorisch' und 'französisch' und eröffnen damit neue Perspektiven auf Marseille und die 'komorische Gemeinschaft'", sagt Englert. Was das konkret bedeutet, wird etwa in Sopranos Vorbemerkungen zu seinem Album Cosmopolitanie deutlich, in denen er sich gegen rassistische Zuschreibungen wendet: "Zu einem Zeitpunkt, an dem der Front National mich in einem großen Zoo sehen will, kämpfe ich gegen den Rassismus und alle seine grotesken Ideen."

Anders als Soprano wurde Ahamada Smis auf den Komoren geboren und kam erst mit zehn Jahren nach Frankreich. Musikalisch zwischen Hip-Hop und Weltmusik angesiedelt, erinnert er in seinen Texten an die französische Kolonialherrschaft. Auch stellt er eine kulturelle Verbindung der heimatlichen Inseln mit ostafrikanischen Ländern wie Tansania, dem halbautonomen Sansibar, dem Kongo oder Kenia her.

Wider die Trennung

"In diesen Staaten, die von unterschiedlichen Ländern kolonisiert wurden, spielt etwa die Sprache Suaheli, die eng mit dem Komorischen verwandt ist, eine wichtige Rolle", sagt Englert, die selbst Suaheli spricht und früher in Tansania geforscht hat.

Auch in den Texten der Gruppe Afropa, über die Englert mit dem Filmemacher Andrés Carvajal den Film Creating Comoria gedreht hat, spielt das Thema der Trennung von kulturell Zusammengehörigem durch den Kolonialismus eine zentrale Rolle: "Die Komoren sind mein Erbe, wir Kinder von den vier Inseln, Mayotte, Anjouan, Mohéli und Grande Comore, dürfen keine Trennung der Inseln akzeptieren. Europa befindet sich im Prozess der Vereinigung, Frankreich, das eine große Rolle in der EU spielt, hat sich getraut, uns zu teilen. Es ist verrückt, diese Teilung zu akzeptieren."

Vergessene Geschichte

"Mit ihren Verweisen auf die vorkoloniale Geschichte der Komoren zielen diese Künstler auf ein Empowerment der französisch-komorischen Einwohner Marseilles, die eine relativ unbekannte Minderheit darstellen", sagt Englert. "Wir werden gesehen, aber die Menschen wissen nicht, wer wir sind", sagte Ahamada Smis in einem Interview.

Das Wissen über die Komoren und deren Geschichte fehlt jedoch nicht nur den Franzosen, sondern auch vielen der jüngeren Frankokomorianer. In etlichen Texten geht es deshalb um eine Neuerzählung der kolonialen und postkolonialen Geschichte der Komoren, deren Kenntnis von den Künstlern als essenziell für eine selbstbewusste gesellschaftliche Positionierung der Frankokomorianer in Europa erachtet wird.

Um mit ihrer Forschung einen kleinen Beitrag dazu zu leisten und eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, arbeiten die Wissenschafter gemeinsam mit dem komorischen Künstler Mounir Hamada Hamza parallel zu ihren Untersuchungen zurzeit auch an einem Film über den Twarab. (Doris Griesser, 7.2.2016)