Das Blau des Himmels in allen seinen Schattierungen, von zartesten lichten Tönen über tiefes Azur bis zu Nachthimmelschwarz: Rund 230 Jahre alt ist die Kartonscheibe, die schier alle Farbnuancen des Himmelszelts zu versammeln scheint und mit Ziffern klassifiziert.

Das sogenannte Cyanometer ist eine Schweizer Erfindung. Horace-Bénédict de Saussure, ein Genfer, erfand die Messskala für die Intensität der Himmelsfarbe, mit der er sich 1788 auch zu Messungen in die Alpen aufmachte. Und es heißt, Davos bewies mit dem Cynaometer, dass sein Himmel blauer ist als jener von St. Moritz.

Im Davoser Sertigtal
Foto: Feßler

Tatsächlich! Kurz reißt der Himmel über dem Sertigtal auf, einem zehn Kilometer langen, idyllischen Seitental, von wo man im Sommer zu Bergtouren in das Massiv von Mittaghorn, Plattenfluh und Hoch Ducan aufbrechen kann. Aber jetzt gerade blitzt hier intensivstes Blau zwischen den duftigen Wolken hervor, so als würde man mit diesem Farbschauspiel den Reisenden ehrgeizig – und dem bald einsetzenden dichten Schneeflockentanz trotzend – Beweis ablegen wollen.

Wie kommt der Schnee nach St. Moritz?

Das mit dem blaueren Blau ist sogar plausibel, denn je weniger Wasserdampf in der Luft, umso durchsichtiger – also umso blauer – der Himmel. Schließlich ist es die trockene hochalpine Luft der auf 1.560 Metern Seehöhe gelegenen Stadt – obendrein kaum Pollen und milbenfrei – auf der Davos’ Ruf als Luftkurort basiert. Insbesondere Tuberkulosepatienten strömten seit der Eröffnung des ersten Kurhauses 1868 in die Gemeinde, deren Einwohnerzahl sich flink verzehnfachte. Die Kranken erhofften sich Linderung, wenn nicht sogar Heilung. Ja, man glaubte sogar, die Tuberkulose, an der damals trotz Liegekur und Höhenluft 70 Prozent starben, sei auf über 1.600 Metern nicht mehr ansteckend.

Spitz taucht der Kirchturm aus der Flachdachlandschaft von Davos heraus.
Foto: Feßler

Auch Thomas Manns Frau Katia kurierte hier im einstigen Waldsanatorium ihre angegriffene Lunge. Heute ist es, so wie das damalige Jugendstil-Luxussanatorium Schatzalp, ein Hotel: Welches der Häuser sich nun in Manns Jahrhundertwenderoman "Der Zauberberg" spiegelt, ist bis heute unklar. Generell geht man hier aber mit dem literarischen Erbe eher unaufgeregt um; statt Thomas-Mann-Menü serviert man lieber Bündner Gerstensuppe oder Capuns, mit Käse überbackene Rauchfleischknödel.

Ob seines verzwirbelten Schindeldachs sagt man ihm nach, "der verdrehteste Davoser" zu sein.
Foto: Feßler

Den erwähnten Wettstreit ums tiefere, schönere Blau kennt Martin Accola vom Tourismusbüro Davos Klosters zwar nicht, aber sehr wohl das neckende Konkurrieren der beiden exklusiven Graubündner (die Einheimischen sagen "Grischa" oder "Grischuna") Tourismusorte – Davos im Prättigau und St. Moritz im Oberengadin. Der kaum 80 Kilometer entfernte, mondäne Wintersportort rühmt sich, erzählt Accola, gerne mit über 300 Sonnentagen. Solche Superlative kontere er dann gerne spitzbübisch mit der Frage: Wie kommt St. Moritz dann zu seinem Schnee?

Blick auf Davos, Richtung Tinzenhorn: Spitz taucht der Kirchturm aus der Flachdachlandschaft heraus. Ob seines verzwirbelten Schindeldachs sagt man ihm nach der "verdrehteste Davoser" zu sein.
Foto: Tourismusbüro Davos Klosters

Denn ohne Schnee geht freilich da wie dort nichts. Und darum schneit es jetzt auch umso ausgiebiger – noch so ein Vorführeffekt – schließlich fallen 55 Prozent des Tourismusaufkommens in der Region Davos Klosters auf die Wintermonate. Um im Dezember, wenn der nordische Skiweltcup hier wie jedes Jahr Station macht, Schneereserven zu haben, betreibt man seit 2008 Snowfarming im schattigen Flüelatal. Den mit Folie und Sägemehl zugedeckten Schneeberg planierte man zu Beginn der Saison zu 1,2 Loipenkilometern; Ziel ist es 3,5 Kilometer Schneereserven über den Sommer zu bringen.

Lang vor dem Weltwirtschaftsforum: Ernst Ludwig Kirchner taucht Davos und "Davos im Sommer" (1925) in grelles Pink.
Foto: Kirchner Museum Davos

Anders das "erste entschleunigte Skigebiet Europas": Auf der Schatzalp/Strela stehen die Lifte solange still, bis ausreichend Naturschnee gefallen ist. Aber neben den Pisten, wo der Charme des Ursprünglichen zählt und einem am Schlepplift der Bügel noch per Hand gereicht wird, gibt es freilich noch zwei weitere Skigebiete, auf die notfalls mit Kanonen Schneeauf die Hänge geschossen wird: Die familiäre Sonnenterrasse Madrisa und die sportliche, wegen einer 12 Kilometer langen Abfahrt auch legendäre Parsenn. "Entdeckt" haben diese übrigens vier Engländer: Sie verirrten sich 1895 am Weissenfluhjoch und landeten letztlich in Küblis.

Sagenhaft ist auch die Weite des Bergpanoramas rund um das Jakobshorn gegenüber, aber mitten im wirbelnden Flockenparadies sieht man gerade nichts als Weiß. Martin Accola begegnet dem Whiteout mit Humor, rühmt trotzdem die Gipfel ringsum und weist mit dem Skistock dorthin, wo man per Skitour ins Montafon gelangen könnte.

Bürgerlicher Sportpöbel

"Wir alle hier oben haben sie so unbeschreiblich satt", lässt hingegen Thomas Mann im Roman "Der Zauberberg" einen Sanatoriums-Insassen über die hochalpine Landschaft klagen, was wohl eher der Verfassung der Romanfigur geschuldet ist. Mann selbst empfand jedoch größten Respekt für die "Hoch-Natur", "etwas verschüchtert, fast fromm" beschreibt er sein Verhälntis. Darum ärgerte es ihn immer etwas wie der bürgerliche Sportpöbel sich so leichtsinnig und ohne Gefühl für ihre stille Drohung darin tummelt."

Foto: Dokumentationsbibliothek Davos

Was er gemeint hat, sieht man, während man noch im Skigewand mit der Schatzalpbahn flugs auf über 1.800 Meter gleitet und die Regenbogenlichter rechts der Gleise ihre ganz eigene Romantik verbreiten. Und dennoch bremst die Stille und die Atmosphäre des historischen, sonnenverwöhnten Hotels, samt ächzendem Aufzug und uraltem Fernsprecher in der Lobby den rasant Reisenden aus.

Foto: www.schatzalp.ch

Für den Sanatoriumsgast, der hier Monate, ja Jahre, verbrachte, wurde Zeit relativ. Thomas Mann diente der Kurbetrieb als Kulisse für skurrile Charaktere, Repräsentanten eines spätbügerlichen Lebens wie Denkens, die er in einen Zustand der Zeitlosigkeit und Pflichvergessenheit taucht.

Foto: Dokumentationsbibliothek Davos

Man späht in das Zimmer 101, tritt auf die breite Loggia, von wo man den vermeintlichen Zauberberg, die kantige Silhouette des bei Sonnenaufgang manchmal rot aufleuchtenden Tinzenhorns sehen kann und versteht, warum Regisseur Paolo Sorrentino seinen Film Youth (2015), einen Kassasturz am Ende eines Lebens mit Michael Caine und Harvey Keitel in den Hauptrollen, hier spielen lässt.

"Youth" (2015), Trailer
CBR Trailers

Den Einheimischen kam allerdings nicht Mann, sondern ein anderer Zugereister näher: Maler Ernst Ludwig Kirchner, dem in Davos ein Museum gewidmet ist. Auch er verbrachte einige Zeit in einem Sanatorium. Der Künstler litt zwar nicht an Tuberkulose, aber er erholte sich in der Ruhe der Schweizer Berge von einem Nervenzusammenbruch und dem aufreibenden Leben in Berlin. "Die Menschen sind halb verrückt dort", schreibt er 1919 an Henry van der Velde. "Unter Maschinengewehrfeuer und Einbrüchen werden Feste gefeiert und getanzt."

Ernst Ludwig Kirchner: "Tinzenhorn" (1919/20)
Foto: Kirchner Museum Davo

1917, als der Wandel vom Kurort zur Tourismusdestination bereits vollzogen war, übersiedelte Kirchner endgültig nach Davos, ließ sich auf einer kleinen Hütte auf der Stafelalp nieder. Die Einfachheit und Ursprünglichkeit des Berglebens faszinieren ihn. "Dieser kleine Fleck Erde ist unerschöpflich."

Tiefe Achtung

Es entstehen Holzskulpturen und Bilder (Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgrafiken) von Berglandschaften, Waldschluchten, Viehherden und den "einfachen Menschen mit den klaren Augen und den stillen Bewegungen". Für deren harte, "in Liebe getane" Arbeit Kirchner tiefe Achtung empfand und deren stolzen Charakter er wertschätzte. Leuchtend werden hier seine Gemälde, schier irreale Farben stellen das Davoser Blau in den Schatten. Die klare Luft der Berge löse das aus, schreibt er. "Berge und Menschen haben eine reinigende Wirkung auf mich." (Anne Katrin Feßler, 3.2.2016)