Vor und hinter den Kulissen der vollen Bücherregale – hier im großen Lesesaal der Uni Wien – verändert die Digitalisierung das Lesen, Schreiben und Verlegen von Wissenschaft.

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Wien – Auf den ersten Blick sieht es in den großen Bibliotheken nicht viel anders aus als vor hundert Jahren: Die Lesesäle der Universitätsbibliothek Wien – im Jahr 1900 übrigens die zweitgrößte Uni-Bibliothek der Welt – und der Nationalbibliothek sind dieser Tage gut gefüllt. Die meisten Studierenden und Forschenden haben bedrucktes Papier in Form von Büchern, Zeitschriften oder Skripten vor sich liegen, machen sich Anmerkungen oder prägen sich das Gelesene ein, um sich auf ihre Prüfungen vorzubereiten.

Gut, viele arbeiten mit Leuchtstift, haben ein Smartphone neben sich liegen, etliche tippen Texte in einen Laptop, und einige lesen auch auf elektronischen Lesegeräten. Das gab es vor hundert Jahren nicht. Doch es kann in diesen säkularen Kathedralen des Wissens keine Rede vom viel beschworenen Ende des Buches sein oder gar davon, dass Lesen selbst eine aussterbende Kulturtechnik sei, wie der Technikphilosoph Vilém Flusser vor mehr als einem Vierteljahrhundert kühn behauptete.

Der Blick in die Lesesäle kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter den beeindruckenden Kulissen der vollen Bücherregale im wissenschaftlichen Publikationswesen gerade kein Stein auf dem anderen bleibt – und zwar auf allen Ebenen.

Es geht dabei nicht nur um die Zukunft des Gedruckten, das mehr und mehr von digitalen Veröffentlichungen abgelöst wird. Es geht auch um den offenen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen (Open Access), um Milliardenprofite auf Kosten der Steuerzahler, um die Zukunft der kleinen und mittleren Verlage und die Rechte von Autoren. Kurzum: Beim wissenschaftlichen Publizieren geht es gerade ums Ganze.

Wenig öffentliche Diskussion

Das Erstaunliche ist nur, dass in Österreich Diskussionen über die komplexe, aber höchst relevante Materie weitgehend fehlen, auch wenn das Open Access Netzwerk Austria und der Wissenschaftsfonds FWF in Sachen Open Access eine internationale Vorreiterrolle einnehmen. So ist hierzulande am 1. Oktober eine Novelle des Urheberrechtsgesetzes in Kraft getreten, die eigentlich zu einem Aufschrei hätte führen müssen – im Gegensatz zu Deutschland, wo ein harmloseres Gesetz zu monatelangen Debatten führte.

Die großen Umbrüche in der wissenschaftlichen Verlagsbranche passieren natürlich international. Und auch diesbezüglich befinden wir uns gerade in einer höchst spannenden Phase. In den vergangenen Jahren kam es zu extremen Konzentrationsprozessen, die es den Multis wie Elsevier, Springer, Wiley oder Holtzbrinck ermöglichten, den Unis Fantasiepreise für ihre Zeitschriften zu diktieren; allein Elsevier machte zuletzt bei einem Umsatz von gut zwei Milliarden Euro knapp eine Milliarde Gewinn.

Die Digitalisierung hat den Profiten noch keinen Abbruch getan, eher im Gegenteil. Und auch die Forderungen nach Open Access, also den freien Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, wussten die bestimmenden Verlagsriesen bisher kommerziell für sich zu nutzen. Doch nun soll es wirklich ernst werden.

Wie ernst, das lässt sich auch daran ermessen, dass die aktuelle niederländische Ratspräsidentschaft den Kampf gegen die wissenschaftlichen Verlagsmultis auf ihre Agenda gesetzt hat. "In den nächsten Monaten wird sich vermutlich entscheiden, wie es mit dem wissenschaftlichen Publikationswesen für die nächsten zehn Jahre weitergehen wird", prophezeit Falk Reckling, für Strategiefragen und Open Access zuständiger Abteilungsleiter beim Wissenschaftsfonds FWF.

Die Chancen, dass sich etwas zum Besseren ändert, stehen nicht ganz schlecht. Zum einen wuchs zuletzt die Front gegen die Verlagsgiganten: Wissenschaftsförderer wie der FWF und Unis in aller Welt fordern Reformen ein, und immer mehr Forscher boykottieren Elsevier, Springer und Co. "Ich verfasse keine Artikel oder Gutachten zu Manuskripten mehr, die in Zeitschriften dieser Verlage erscheinen sollen", sagt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner von der ETH Zürich, der ein Buch über die Zukunft des wissenschaftlichen Buchs verfasst hat.

Zum anderen zeigten erfolgreiche Open-Access-Zeitschriften wie PLoS oder eLife, dass es Alternativen gibt. Diese Journale verlangen von den Autoren Geld für die Publikation, nicht aber von den Lesern und Bibliotheken,

Beim Kampf gegen die Monopolstellung der Großverlage geht es aber längst nicht mehr allein um die Zukunft der Zeitschriften, wie Reckling betont: "Die Verlagsmultis haben mittlerweile den gesamten wissenschaftlichen Workflow in ihrem Portfolio: von der Software für Labortagebücher bis zu PDF- und Literaturverwaltungssoftware wie Mendeley bis hin zu Zitations- und Abstract-Datenbanken wie Scopus."

Ein Ziel dabei müsse es daher sein, kleine Verlage wieder ins Geschäft zu bringen, die den Monopolisten trotzen. Vor allem aber sollen die Urheber – also die Wissenschafter – wieder zu den Rechteinhabern ihrer Texte werden.

Eine umstrittene Reform

In Österreich freilich ticken die Uhren etwas anders. Hier beschloss man eine seit 1. Oktober gültige Novelle zum Urheberrechtsgesetz, die in einigen Punkten in die andere Richtung weist. Unter anderem im den Passus 42g: "Öffentliche Zurverfügungstellung für Unterricht und Lehre." Er räumt Bildungseinrichtungen ein, veröffentlichte Werke für Zwecke der Lehre zu vervielfältigen und digital zur Verfügung zu stellen.

Den Vertretern der heimischen (Klein-)Verlage und den Autoren ist aber vor allem die Ergänzung zu Paragraf 42a ein Dorn im Auge, die Bibliotheken erlaubt, "auf Bestellung unentgeltlich oder gegen ein die Kosten nicht übersteigendes Entgelt Vervielfältigungsstücke auf beliebigen Trägern zum eigenen Schulgebrauch oder zum eigenen oder privaten Gebrauch für Zwecke der Forschung herstellen".

"In Deutschland hat der viel enger gefasste Passus über digitalen Kopienversand auf Bestellung für heftige Diskussionen im Wissenschaftsbereich gesorgt", sagt Sandra Csillag, Geschäftsführerin der Literar-Mechana, die sich um die Rechtewahrung der Autoren und Verlage kümmert. Und Alexander Potyka, Vorsitzender des Verlegerverbandes, hält die Novelle für "dringend reparaturbedürftig".

All das hat natürlich auch erhebliche Auswirkungen auf das Schreiben und Verlegen von Wissenschaft – und nicht zuletzt darauf, ob künftig in den Lesesälen Bücher zwar in den Regalen stehen, von den Lesetischen aber ganz verschwinden werden. (Klaus Taschwer, 31.1.2016)