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Sicherheitskräfte im Einsatz am Tahrir-Platz fünf Jahre nach der Revolution in Ägypten.

Foto: REUTERS/Mohamed Abd El Ghany

STANDARD: Wo steht Ägypten fünf Jahre nach Revolutionsausbruch?

Völkel: Ägypten ist mit großen Hoffnungen gestartet. Die meisten haben sich nicht erfüllt. Das gilt insbesondere für die politische, aber auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Zum Beispiel zeigen die aktuellen Zahlen des Bertelsmann-Transformationsindex', dass Ägypten politisch schlechter dasteht als im Jahr 2010 gegen Ende der Mubarak-Zeit. Die Wirtschaftsentwicklung ist ganz ähnlich. Ein wesentlicher Grund ist das hohe Bevölkerungswachstum, das die Volkswirtschaft nicht ausgleichen kann. Zum Zweiten setzt die jetzige Regierung zu sehr auf Großprojekte, die mit großem medialem Interesse durchgeführt werden wie der Suez-Kanal oder die Planung der neuen Hauptstadt. Das hilft der Volkswirtschaft aber wenig.

STANDARD: Was ist von den Forderungen der jungen Aktivisten nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit in Erfüllung gegangen?

Völkel: Sehr wenig. Was Brot angeht, das habe ich eben beschrieben, dass die Wirtschaftslage insgesamt schlecht ist. Die Freiheit ist im Moment indiskutabel. Wir haben wohl mehr politische Gefangene in den Gefängnissen als zu Zeiten Gamal Abdel Nassers. Bei der sozialen Gerechtigkeit muss man etwas differenzieren. Das große Bild ist sicher so, dass die herrschenden Oberschichten nach wie vor uneingeschränkt an den Töpfen des Landes sitzen. Dass sich die Menschen bewusst geworden sind, dass sie ein Recht auf eine Sicherung des Lebens haben, bedeutet leichte Verbesserung.

STANDARD: Mit den Islamisten bleibt eine bedeutende Strömung vom politischen Leben ausgeschlossen. Kann das lange gutgehen?

Völkel: Gerade in einem Land wie Ägypten sind Prognosen schwierig. Viele Beobachter haben darauf hingewiesen, dass die Exklusion des politischen Islam, also vor allem der Muslimbrüder, im Prinzip der falsche Weg ist und letztlich dafür sorgt, dass sich deren Vertreter noch mehr radikalisieren. Das ist das Schreckensszenario. Die Unterstützer der jetzigen Regierungsstrategie argumentieren, dass nur mit klarer Gewalt dem politischen Islam begegnet werden kann, weil sonst Chaos folgt.

STANDARD: Was sind die größten Defizite für ein funktionierendes demokratisches System?

Völkel: Eines der wesentlichen Defizite ist das Fehlen von funktionierenden Institutionen. Es gibt keine gut organisierten Parteien und schon gar keine Parteien mit einer Massenbasis – mit Ausnahme der Muslimbrüder und der früheren Nationaldemokratischen Partei, die beide verboten sind. Das führt zum zweiten institutionellen Defizit: Das jetzige Parlament wird in keiner Weise seinen Anforderungen gerecht, weder ist es kritisch gegenüber der Arbeit der Regierung, noch findet es eine eigenständige Arbeitsweise.

STANDARD: Tunesien ist – trotz der aktuellen Probleme – der Musterschüler unter den Ländern des Arabischen Frühlings. Was haben die Tunesier besser gemacht?

Völkel: Die Tunesier haben sich nie auf einen einzelnen Mann verlassen. Die Ägypter haben 2013 nach dem Sturz von Morsi ihr Schicksal und ihr Glück zu sehr in die Hände eines Einzelnen gelegt, die Tunesier haben eher an Institutionen geglaubt. Zudem hat die islamistische Ennahda-Partei in Tunesien viel von den Erfahrungen der Muslimbrüder in Ägypten gelernt, nämlich dass es sich nicht lohnt, zu sehr gegen bestehende Machtstrukturen anzukämpfen, sondern dass man sich zu arrangieren hat. (Astrid Frefel aus Kairo, 25.1.2016)