Was alles geschrieben wurde in den letzten Wochen – über unser Frauenverständnis, unsere Werte, den chirurgisch genau von Religion getrennten Staat! Ganz warm ums Herz konnte einem da werden.

Irgendwas scheint man dennoch übersehen zu haben. Das kann passieren. Immerhin hat man das europäisch Hochwertige im Auge, quasi den mit Bravour bestandenen Ethikelchtest. Bevor man sich in ermüdenden Wertedebatten und dem Hochjubeln europäischer religiöser Aufklärung und anderer Errungenschaften ergeht, sollte man sich dennoch sicherheitshalber die dunklen Flecken der eigenen Geschichte zu Gemüte führen.

Dazu gehört wie das Amen im Gebet der Umgang mit minderjährigen Opfern sexueller Gewalt in Erziehungsanstalten. Alle Jahre wieder taucht ein kleiner oder größerer Abgrund auf. Und nie will jemand etwas mitgekriegt haben. Die Entschädigungszahlungen setzen Spießrutenläufe entwürdigendster Natur voraus – oft vergeblich.

Einer der Gründe, warum solche Taten nicht verjähren sollten: Opfer brauchen manchmal lange Jahre, um endlich über das Erlittene sprechen zu können. Und der, der das zu spät tut, hat eben nochmals Pech gehabt. Das letzte Beispiel: ein Knabenchor. Das Martyrium mancher Zöglinge pfeifen mittlerweile die Domspatzen von den Dächern. Von sexuellem Missbrauch bis zu körperlichen und seelischen Verletzungen an bis zu 700 Kindern soll es über lange Jahre alle Stückerln gespielt haben.

Georg Ratzinger, ehemaliger Kapellmeister der Domspatzen, fand als erste Reaktion recht unheilige Worte zu der Causa: "Aufklärung ist Irrsinn." Das klingt verdächtig nach Orwell'schen Ministerien. Ratzinger weiter: Das Thema sei für ihn "erledigt". Das ist fein für ihn, aber nicht für Betroffene, die sich immer noch melden. Was Täter bestimmen, haben Opfer nicht ihr Leben lang zu akzeptieren. Was die meisten Missbrauchsskandale eint: diese Weigerung, noch einmal hinzusehen. Die Weigerung, geschehenes Leid wieder gutzumachen.

Wer hilflos ausgelieferten Kindern welche Form von Gewalt auch immer antut, der darf sich eigentlich am Kanon der europäischen Werte nicht mehr beteiligen, sei die Erziehungsanstalt nun privat oder öffentlich, religiös oder säkular. Aber das Erschreckendste ist, dass die Täter so oft nicht einmal späte Reue zeigen. (Julya Rabinowich, Album, 22.1.2016)