Passau/Berlin/Davos/Wien – EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat nach dem Beschluss von Flüchtlingsobergrenzen in Österreich vor nationalen Abschottungsmaßnahmen gewarnt. "Mir scheint, dass viele, die nach einer Schließung der Grenzen rufen und damit Schengen zu Grabe tragen, nicht sehen können oder wollen, dass die Auswirkungen katastrophal wären", sagte Schulz der "Passauer Neuen Presse" vom Freitag.

Grenzkontrollen richteten "wirtschaftlich massiven Schaden" an und seien "eine Gefahr für Arbeitsplätze und Wachstum". Wenn Lastwagen stundenlang an innereuropäischen Grenzen warten müssten, "kommt so manche Produktion ins Schleudern oder zum Stillstand", sagte Schulz.

Schäuble kritisiert Vorgehen Österreichs

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble beklagt eine fehlende Abstimmung bei der Entscheidung Österreichs. "Ich musste ein bisschen Luft holen, als ich gehört habe, dass diese Entscheidung mit uns nicht sehr eng abgesprochen war", sagte Schäuble zu "Spiegel Online" am Freitag. Denn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel habe sich in den vergangenen Monaten auch um eine enge Abstimmung mit Österreich bemüht.

Schäuble kritisierte die mangelnde Kooperationsbereitschaft anderer EU-Länder. Im Gegensatz zur Eurokrise glaube "ein Teil unserer EU-Partner diesmal, sie seien von dem Problem gar nicht betroffen", sagte der CDU-Politiker. "Das halte ich für falsch, aber so sehen sie es nun mal."

Schäuble warnte vor dem Scheitern einer europäischen Lösung. "Wenn das Schengen-System zerstört wird, ist Europa dramatisch gefährdet – politisch und wirtschaftlich." Mit Blick auf die Weltwirtschaft sieht Schäuble derzeit "eine Fülle von krisenhaften Entwicklungen" und extremen Schwankungen.

Mikl-Leitner: Obergrenze "ist ein Notschrei"

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) verteidigte in dem deutschen Radiosender NDR Info am Freitag den Beschluss, die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge auf 37.500 zu senken. Deutschland und Schweden und "vor allem Österreich" könnten die Last auf Dauer nicht alleine tragen. Die Obergrenze erzeuge Druck auf die europäischen Partner. "Es ist ein Notschrei."

"Wir erreichen mit unserem Maßnahmepaket das, was wir tatsächlich wollen: Es setzt nämlich ein Dominoeffekt ein, ein Dominoeffekt in ganz Europa, was die Verschärfungen betrifft", sagte sie. Es sei also durchaus Österreichs Ziel, Verschärfungen in der ganzen EU auszulösen: "Wir können hier von einer Schubumkehr in der Flüchtlingspolitik sprechen." Das sei schon im vergangenen Jahr "für jeden vernünftigen Menschen absehbar" gewesen.

Auf Kritik an der Maßnahme erwiderte sie, dass die Politik die Aufgabe habe, die Stabilität und Sicherheit der Republik zu garantieren. "Wer jetzt noch immer nicht begriffen hat, dass es eine Obergrenze braucht, überlässt die Zukunft den Populisten und den Radikalen. Und dann wird Europa scheitern, und zwar schneller, als so manche glauben."

Orbán sieht "Sieg der Vernunft" in Österreich

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat den Beschluss zu Obergrenzen derweil als "Sieg der Vernunft" bezeichnet. "Dogmatisches Denken hat vor der Realität und dem Hausverstand kapituliert", kommentierte er am Freitag in seinem regulären Radiointerview im staatlichen Kossuth Radio.

Europa könne nicht ohne Beschränkungen und Kontrollen eine große Masse an Ausländern aufnehmen, wiederholte Orbán. Ungarns Standpunkt sei: Es wäre besser wenn keine Zuwanderer nach Europa kämen. Egal welche Routen Flüchtlinge durch Europa nähmen, "es ist absolut klar, dass sie nicht durch Ungarn ziehen werden". Er verwies diesbezüglich auf Vorbereitungen, nun auch an Teilen der Grenze Ungarns zu Rumänien einen Zaun zu errichten; die Kapazitäten seien vorhanden, nun auch diese Grenze dichtzumachen, so der Regierungschef.

Der rechtskonservative Politiker erneuerte auch seine Kritik an der EU-Kommission. Diese lasse Nationalstaaten nicht die Möglichkeit, eigene Lösungen für Probleme zu finden. Den Nationalstaaten Kompetenzen zu nehmen und zugleich keine Alternativen zu bieten, werde Europa schwächen. Die neue rechtskonservative Regierung in Polen nahm der Ministerpräsident gegen Kritik aus Brüssel in Schutz. Zentraleuropa hinke dem Westen des Kontinents, was die Anforderungen der Demokratie betreffe, nicht hinterher. (APA, red, 22.1.2016)