Judith (Birgit Minichmayr) bringt in der Ostberliner Volksbühne nicht nur Holofernes um den Kopf, sondern sogar ein Trampeltier mit.

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Frank Castorfs Intendanz an der Berliner Volksbühne geht 2017 zu Ende. Eine gute Gelegenheit, im Abendrot der eigenen Ära der Wiege unserer Kultur zu gedenken. Castorf inszeniert Friedrich Hebbels Judith. Tatsächlich spielt das Stück in Syrien. Die assyrische Streitmacht des Holofernes rückt gegen die jüdische Festung Bethulien vor. Holofernes, der Feldherr, dünkt sich gottgleich. Als selbsternanntes Geschenk an die Menschheit kann er vor Kraft kaum stehen oder laufen. Seine Mitmenschen behandelt er meist schlecht, aber völlig willkürlich. Gnade und Ungnade verhängt er nach Lust, aber ohne gedankliches System dahinter.

Hebbel (1813-1863) ist in seinem Dramenerstling einem entsetzlichen Geheimnis auf der Spur. Er ahnt etwas von der kommenden Figur der Epoche, dem Übermenschen. Er spürt, wie der Nihilismus heraufzieht, und wie mit ihm die Auslöschung aller Werte droht. Hebbel entwirft zu Holofernes die jüdische Gegenfigur der Judith. Tatsächlich hat er die Geschichte der unberührten Schönheit, die sich dem Holofernes aus freien Stücken darbringt, um ihn anschließend zu köpfen, nicht der Bibel entnommen, sondern einem Ölgemälde.

Das Syrien, das Castorf in die Volksbühne hat bauen lassen, ist pechschwarz. Es stammt aus einem deutschen Bettenhaus. In Anlehnung an den verstorbenen Bühnenbildner Bert Neumann hat man eine Unzahl schwarzer Polster zu einem Gebirge emporgetürmt. Bühne und Zuschauerraum haben die Seiten gewechselt. Drei rote Plastikzelte markieren das Heerlager der Assyrer. Ein Badeteich vorne an der Rampe ermöglicht es den Aggressoren wie auch den strenggläubigen Juden, sich die Füße zu kühlen.

Angesichts der Weltlage

Im Vorfeld dieser Produktion mit Birgit Minichmayr (Judith) wurde eine Menge Dramaturgenprosa herumgereicht. "Den Westen ficken", hieß eine entsprechende Einlassung. Und weil jedermann die Angst vor IS-Terror und Jihadismus umtreibt, durfte man einen Castorf-Kommentar zur Weltlage durchaus erwarten. Möchte "Judith" von "Holofernes" genommen werden, weil er so herrlich potent ist? Wer "fickt" hier eigentlich wen?

Castorf räumt allfällige Zweifel und Bedenken gekonnt beiseite. Holofernes (Martin Wuttke) und Judith (Minichmayr) erklettern das Bettengebirge wie Käfer. Eine Coca-Cola-Reklame blinkt. Auf dem unvermeidlichen Bildschirm sieht man die Zeugnisse altertümlicher Baukunst, Amphitheater, die Säulen von Palmyra.

Von nun an ist die Sekundärliteratur am Wort. Minichmayr und Wuttke rezitieren ausgiebig aus Antonin Artauds herrlich verrückter Schrift Heliogabal oder Der Anarchist auf dem Thron. Ein römischer Kaiser weiht rund um das Jahr 220 n. Chr. sein Leben dem Kult der Sonne. Statuen beginnen zu atmen, Mond und Zentralgestirn liegen miteinander im Clinch. Vor allem aber häuft Heilogabal Laster an. Phalli aus Stein ragen kerzengerade in den Himmel. Der gesamte Nahe Osten vibriert vor Sinnenlust. Natürlich ist Artauds Buch historisch vollkommen unzuverlässig. Als Reiseführer nach Syrien ist es gleich überhaupt nicht zu gebrauchen.

Um Plausibilität hat sich Frank Castorfs Theater noch nie geschert. Schriften aus der Giftküche der Hochmoderne gebraucht er wie Brandsätze. Sie sollen helfen, das Denken in Gang zu setzen. Die Schauspieler haben Unmengen an Text zu rezitieren. Wuttke gleicht einer Viper. Ein Haarzopf entspringt seinem rasierten Kopf. Er hastet über die Bühne wie ein Schamane, dem man den Molotow-Cocktail versteckt hat. In die Kamera starrt niemand böser als der Wilde mit dem Nasenring.

Minichmayr aber mimt die Zauberin aus dem Vorderen Orient. Die Hände wärmt sie sich gemeinsam mit der jungen Magd Mirza (Jasna Fritzi Bauer) am offenen Feuer. Eine lüsterne Atmosphäre hängt über Bethulien. Zugleich stoßen die kuriosesten Glaubensvorstellungen aufeinander.

Der rote Faden

Es liegt am Feldhauptmann (Mex Schlüpfer) des Holofernes, einige der wichtigsten Thesen vorzutragen. Wie im Traum kippt der Abend in Hebbels Judith hinüber. Dann reißt er sich von der Tragödie wieder los und erzeugt das unvergleichliche Castorf-Gefühl. Alle Mitwirkenden spielen wie um ihr Leben. Die Aufregung, in die sie verfallen, ist der Versuch, in der Rolle zu bleiben und sie sich gleichzeitig vom Leib zu halten.

Gleich mehrere Anläufe unternimmt die Produktion, den Faden nicht zu verlieren. Die unvermeidliche Handkamera glotzt in das Innere der Zeltstadt. Und tatsächlich platzt Minichmayr irgendwann mit der Frage hervor: "Wo ist der rote Faden?" Holofernes findet ihn und wickelt ihn folgsam auf. Auch dazu lassen sich assyrische Feldherren also gebrauchen. Bis es zum unvermeidlichen Rendezvous zwischen ihm und der schönen Jüdin kommt, dauert es geschlagene Stunden. Man möchte keine einzige missen. Irgendwann säuselt Minichmayr ihren Peiniger mit süßer Stimme an: "Du bist so klug!" Dabei hat der nichts anderes getan, als mit dem Double seines Kopfes Fußball zu spielen.

Sein ohnehin reiches szenisches Arsenal hat Castorf um zwei bedeutsame Elemente erweitert. Ein Chor der Juden erörtert mit verteilten Stimmen die kniffligen Fragen der Theologie, die Hebbel in Judith den Hebräern aufgibt. Und dann, sehr spät, liefert Minichmayr als züchtig auffrisierte Klimt-Figur im Glitzerkleid den Höhepunkt der furiosen Aufführung. Sie zieht ein echtes (syrisches?) Trampeltier hinter sich her. Wien grüßt Damaskus. Berlin hat ein Rendezvous von Tier und Mensch ermöglicht. Erschöpfter Jubel. (Ronald Pohl, 21.1.2016)