STANDARD: Ihre Vorstudie über islamische Kindergärten in Wien und der Befund, dass es da Abschottungs- und Missionierungstendenzen gibt, sorgten für große Aufregung, ÖVP gegen SPÖ, Bund gegen Stadt Wien, aber auch Kritik an der Wissenschaftlichkeit. Warum sind Sie so früh damit rausgegangen?

Aslan: Ich habe diese Studie für das Integrationsministerium gemacht, was das Ressort aus meiner Studie macht, liegt nicht in meiner Verantwortung. Mein sehr ausführlicher Abschlussbericht wird jedoch bestätigen, dass wir vor großen Herausforderungen in diesem Bereich stehen. Was die Politik daraus macht, ist eine andere Sache. Aber die Politiker müssen handeln, sie müssen etwas unternehmen.

Der islamische Religionspädagoge Ednan Aslan hat im Auftrag des Integrationsministeriums eine Studie über muslimische Kindergärten und Gruppen in Wien gemacht.
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STANDARD: Wie viele Kindergärten sind demnach problematisch?

Aslan: Wir haben 71 Kindergartenträgervereine analysiert mit mindestens zwei und höchstens sechs Standorten. Konservativ geschätzt kommen wir so auf rund 150 Kindergärten. Kindergruppen sind da nicht berücksichtigt. Wir haben bei diesen Trägervereinen vier Organisationstypen. Die erste Gruppe betrachten wir als intellektuelle Salafisten. Sie arbeiten sehr legalistisch, legen großen Wert auf Bildung und vermeiden Konflikte mit der Gesetzgebung, betreiben aber intern eine konservative, sehr textorientierte Theologie.

STANDARD: Was bedeutet das?

Aslan: Wenn in einem Kindergarten die Stellung der Gesetzgebung in der islamischen Theologie höher geschätzt wird als die Vernunft, die Frau als minderwertiger dargestellt wird als der Mann oder gesagt wird, Islam ist kein Ersatzlager, Islam hat eine umfassendere Vorstellung von einer Gesellschaft, dann geht das in Richtung salafistische Theologie. Die zweite Gruppe nennen wir politische Islamisten. Dazu gehören Organisationen wie Milli Görüs oder die Muslimbruderschaft, die sehr aktiv zahlreiche Kindergärten und -gruppen in Österreich betreiben. Diese Gruppe betrachtet Religion und Politik nicht getrennt. Für sie sind die politischen Ansprüche des Islam ein politischer Auftrag, den sie in verschiedenen Institutionen zu verwirklichen versuchen – auch in Kindergärten.

STANDARD: Wie definieren Sie Trägervereingruppen drei und vier?

Aslan: Die dritte Gruppe sind Wirtschaftsunternehmen, die gewinnorientiert arbeiten. Sie können einen Dönerladen betreiben, sie können auch einen Kindergarten betreiben, was die Klientel will, wird angeboten. Wenn die Kundschaft mehr Religion will, dann machen wir mehr Religion, will sie weniger, dann weniger. Die vierte Gruppe bezeichnen wir als Alternativgruppe. Das sind junge Erzieherinnen und Pädagoginnen, die etwas besser machen wollen als die Stadt. Die machen bessere Elternarbeit, bessere Sprachangebote, die bemühen sich um das Wohl des Kindes. Diese kleine Gruppe sollte besser gefördert werden, damit sich eine neue Pädagogik, eine neue Vorstellung des Islam in Österreich entfalten kann. Um den Einfluss der Theologie und der Betreibereinstellungen in den Kindergärten besser eruieren zu können, brauchen wir eine umfassendere Studie mit intensiver Beobachtung.

STANDARD: Aber Sie gehen davon aus, dass die Ideologie der Träger in die Kindergartenarbeit einfließt?

Aslan: Ja, davon gehe ich aus. In welchem Umfang, wissen wir nicht, aber es wäre naiv zu glauben, dass eine politische oder theologische Organisation plötzlich in einem Kindergarten auf ihre Ziele verzichtet, wenn etwa die Muslimbruderschaft sagen würde, wir wollen mit Politik nichts mehr zu tun haben. Das wäre eine Selbstauflösung. So, als würde zum Beispiel die SPÖ sagen, wir machen nicht mehr Politik, oder der Kardinal sagt, ich werde morgen heiraten.

STANDARD: Wie viele Kindergärten gehören zu welcher Trägergruppe?

Aslan: Die Zahlen stehen im Endbericht, aber das überlasse ich dem Ministerium.

STANDARD: So, wie Sie die Gruppen definiert haben, die Salafisten und die Islamisten und ihre Einstellung zur Politik: Sind die im Grunde genommen nicht demokratiegefährdend beziehungsweise antidemokratisch?

Aslan: Wenn man ihre Schriften analysiert, wird Demokratie dort nicht als Teil des Islam betrachtet. Demokratie ist für solche Gruppen ein Instrument, das sie vorübergehend brauchen und für ihre Zwecke missbrauchen, aber sie kann keine Grundlage für eine islamische Gesellschaft sein.

STANDARD: Also sind das Gruppen, die im Grunde genommen einen islamischen Staat haben wollen?

Aslan: Wir haben insgesamt ein Problem. Sie werden in Wien in keiner Moschee jemanden finden, der auf die Frage "Wollen Sie einen islamischen Staat?" Nein sagt. Es werden alle Ja sagen, vielleicht ergänzen, das ist schwierig zu gründen, et cetera. Daher sage ich immer wieder: Wenn uns die Bilder des IS stören und schockieren, dann müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, ob das nicht doch mit einer bestimmten Theologie zu tun hat. Ich gehe davon aus, dass die IS-Leute in der Vertretung der klassischen Lehre die besseren Theologen sind. Aber wenn wir wollen, dass diese Lehre, die sie besser vertreten, keine Grundlage für die Gegenwart der Muslime sein darf, dann müssen wir uns an unseren Universitäten, in unseren Moscheen intensiver damit auseinandersetzen. Bücher aus dem 9., 12. oder 14. Jahrhundert, die wir gern in unseren Moscheen predigen, sind auch Grundlagen für den IS.

In Wiener Moscheen wurden Muslime zu Silvester vor den westlichen Werten gewarnt, erzählt Uni-Professor Ednan Aslan.
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STANDARD: Ein Beispiel, bitte.

Aslan: In vielen Moscheen in Österreich gab es Ende 2015 Warnungen vor Silvester. Es ging nicht darum, dass man Muslime vor Alkohol warnt, sondern sie wurden vor den westlichen Werten gewarnt. In einer Freitagspredigt eines Verbandes in Österreich, die man im Netz lesen kann, werden Muslime gewarnt, dass sie den Nichtmuslimen nicht "die gleiche Liebe und Anhänglichkeit entgegenbringen sollten". Also dass man sie nicht als Glaubensbruder oder -schwester, wie gleichwertige Menschen lieben soll. Diese Predigt haben wir in unserem Bericht auf Deutsch und Türkisch veröffentlicht. Mir geht es darum, dass die Muslime das, was sie sagen, auch vernünftig reflektieren müssen. Wir haben auch bestimmte antiwestliche Karikaturen aus islamischen Kreisen veröffentlicht. Die Darstellung des Westens in sozialen Medien und die Darstellung der Muslime in rassistischen, rechtsnationalen Medien unterscheiden sich kaum voneinander. Große Nase, Weihnachtsmann ist ein Alkoholiker, das kann ja kein Vorbild sein ... Wir pflegen bestimmte Feindbilder nicht nur, wir fördern sie sogar. Der IS ist zwar eine schreckliche Erfahrung für die Muslime, aber aus dieser Erfahrung sollte man lernen, was es bedeutet, wenn wir bestimmte theologische Inhalte unüberlegt weitergeben.

STANDARD: Sie sagten im "Spiegel": "Islam ist natürlich das, was wir daraus machen. Die Art, wie wir ihn ausüben und leben, entspricht dem Grad unserer geistigen Reife." Welchen Grad geistiger Reife bescheinigen Sie dem Islam heute?

Aslan: In Österreich haben wir eine dramatische Situation. Wir haben hier sehr viele Verteidiger des Islam, die das aus unterschiedlichsten Gründen tun. Aber ich glaube nicht, dass sie diese professionelle Verteidigung aus rein religiösen Interessen organisieren, sondern vielmehr aus politischen, teilweise aus wirtschaftlichen Gründen. Aber nur wenige Muslime können diese Verteidigung inhaltlich begründen. Bei diesen Vorfällen in Köln und in anderen Ländern kann man sicher nicht alles auf den Islam reduzieren, aber ich würde mir wünschen, dass die Muslime zunächst eine Frage zulassen: Hat das mit dem Islam etwas zu tun?

STANDARD: Und – hat es?

Aslan: Es hat nicht nur, aber auch etwas mit einer bestimmten Theologie zu tun. Wir haben sehr viele theologische Werke, die die Frau als Werkzeug des Mannes darstellen. Wir haben jede Menge erfundene Aussagen des Propheten Mohammed, die die Stellung der Frau, überhaupt die Frau als minderwertiges Wesen darstellen. Da sind wir herausgefordert, diese Stellung neu zu überdenken. Kann ein Prophet wirklich so etwas sagen?

STANDARD: Haben Sie die Vorfälle in Köln überrascht?

Aslan: Wir wissen seit Jahren, dass etwa in Ägypten beinahe 70 Prozent der Frauen belästigt werden, von den Ausländerinnen, die dort leben, 96 Prozent. Das heißt, dass Muslime dieses Problem kennen. Das ist nicht neu, aber dort wird mehr darüber gelacht, als dass wir uns mit dieser Situation kritisch auseinandersetzen.

STANDARD: Was heißt das im Hinblick auf die Integration von zigtausenden Flüchtlingen, für die Religion vielfach eine andere, wichtigere Rolle spielt als in unserer postreligiösen Gesellschaft?

Aslan: Im Vorjahr sind 90.000 Flüchtlinge zu uns gekommen, vor allem Afghanen, Syrer, Iraker. Es ist eine Tatsache, dass mehr Menschen aus islamischen Ländern kommen. Was ich mir wünschen würde als Lösung, ist, dass man zunächst die Probleme offen anspricht. Die Situation zu beschönigen oder bestimmte Probleme zu ignorieren hilft uns nicht.

STANDARD: Welche meinen Sie?

Aslan: Zum Beispiel, woran scheitert die Integration überhaupt in Europa? Wir haben ein schlechtes Zeugnis, was die Integration der Muslime in Österreich betrifft.

STANDARD: Scheitert sie an der Religion, am Islam?

Aslan: Nicht unbedingt, aber wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, warum wir das bis jetzt nicht geschafft haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das, was wir seit 50, 60 Jahren nicht geschafft haben, jetzt in einem Jahr zum Beispiel mit Afghanen, Syrern oder Irakern lösen werden. Wenn wir die Hintergründe dieses Scheiterns nicht offen diskutieren und verstehen, wird es uns kaum gelingen, neue Konzepte zu entwickeln. Wenn ein Politiker sagt, wir haben in den Kindergärten überhaupt kein Problem, dann haben wir etwas falsch verstanden. Wenn wir von der Stadt hören, wir haben einiges verbessert, würde ich mir wünschen zu hören: Was haben sie verbessert? Was war falsch?

Wenn die Stadt Wien mit salafistischen oder islamistischen Organisationen zusammenarbeite, "hat das sicherlich Nebenwirkungen", warnt Ednan Aslan vor einem naiven Zugang.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Was ist Ihr Vorwurf an die Stadt Wien?

Aslan: Ich bekomme immer wieder den Vorwurf von der Stadt, warum ich bestimmte Kindergärten und -gruppen nicht nenne. Das tut der Stadtrechnungshof auch nicht – aus Datenschutzgründen. Ich kann meine Interviewpartnerinnen aus forschungsethischen Gründen nicht bekanntgeben. Aber Sie sehen in unserem Abschlussbericht, dass wir zahlreiche Informationen aus dem Netz, aus den Flyern, Publikationen und Vereinsregisterauszügen entnommen haben. Wenn es meinen Mitarbeiterinnen gelingt, solche Inhalte zu finden, sollte das auch den Mitarbeiterinnen der Stadt gelingen. Die Stadt kann auch nicht sagen, uns interessieren solche Trägervereine nicht, wir schauen nur, was im Kindergarten passiert, das ist keine Kontrolle. Sie sagen ja auch nicht, eine rechtsradikale Gruppe betreibt einen Kindergarten, uns egal, dass sie rechtsradikal sind, wir schauen, was im Kindergarten passiert. Diese Vorstellung ist ziemlich naiv. Wenn die Stadt mit salafistischen oder islamistischen Organisationen zusammenarbeitet, hat das sicherlich Nebenwirkungen.

STANDARD: Dürfte in Österreich eine Organisation wie Milli Görüs überhaupt einen Kindergarten betreiben, oder ist das sowieso ein No-Go?

Aslan: Sie können schon Kindergärten gründen, aber die politischen Interessen bestimmter Organisationen sollten nicht politisch oder staatlich gefördert werden. Ich schließe einen Wandel dieser Organisationen nicht aus, aber zumindest unter den Funktionären sehe ich dafür heute kein Zeichen. Wenn die türkische Regierung sagt, wir werden in Wien eine Imam-Hatip-Schule finanzieren, und in den türkischen Medien ganz stolz darüber berichtet wird, muss die österreichische Regierung die Interessen solcher ausländischer Staaten vernünftig analysieren. Worum geht es? Geht es wirklich um eine Religion oder um ausländische Kolonien in einem bestimmten Staat? Wenn ich das staatlich oder städtisch fördere, muss ich wissen, was ich tue, wenn ich wirklich ein Integrationskonzept habe. Aber den Eindruck habe ich nicht, dass die Stadt oder der Staat das haben.

STANDARD: Welche Konsequenzen sollen aus Ihrer Studie folgen?

Aslan: Wenn Eltern religiöse Erziehung wollen, kann man nicht sagen, wir verbieten religiöse Erziehung. Wir brauchen ein Konzept, einen Rahmenplan, wie viel Religiosität ein Kindergarten oder eine Kindergruppe verkraften kann. Das setzt die Grenzen einer vernünftigen Religiosität. Dass ein Kind ein Bittgebet oder ein Lied lernt, ist nicht das Problem. Man muss die Religionsausübung aber auch qualifiziert kontrollieren. Wenn Sie in einem muslimischen Kindergarten sind, können Sie nicht nur kontrollieren, ob die Türen oder Tische in Ordnung sind oder die Kindergartenpädagoginnen über bestimmte Qualifikationen verfügen. Da müssen Sie etwas mehr können, um die theologischen und pädagogischen Herausforderungen verstehen zu können, wenn etwa Koranunterricht gemacht wird. Die eigentliche pädagogische Herausforderung besteht darin, welche Stellung die Religion in einem Kindergarten hat. Religion kann, wenn man es gut macht, einen wichtigen Beitrag für die Integration der Kinder leisten, wenn ein Kind die anderen auch aus religiöser Perspektive verinnerlichen kann – Thomas ist gleich viel wert wie ich, Ali Mohammed. Einen Kindergarten sofort zu schließen, wenn irgendwo Religion sichtbar ist, ist nicht die Lösung. Die Religion an sich darf nicht kriminalisiert werden. (Lisa Nimmervoll, 22.1.2016)