Marina Litwinenko, Witwe des 2006 ermordeten Ex-KGB-Agenten Alexander Litwinenko, mit dem neuen Bericht zur Ermordung ihres Ehemannes.

In der Londoner Klinik zeigte das Mordopfer mit dem Finger auf den mutmaßlichen Anstifter: Russlands Präsident Wladimir Putin, schrieb Alexander Litwinenko im November 2006, kurz vor seinem qualvollen Tod, habe sich als "barbarisch und skrupellos" erwiesen.

Gut neun Jahre danach hat am Donnerstag eine unabhängige Untersuchung durch einen früheren Richter am britischen High Court die ungeheuerliche Anschuldigung gleichsam bestätigt: Litwinenko, abtrünniger Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, wurde mitten in London von zwei Russen mit radioaktivem Polonium-210 vergiftet. Dies geschah, glaubt Sir Robert Owen, "mit hoher Wahrscheinlichkeit" nach Maßgabe des FSB und wurde "wahrscheinlich" von dessen damaligem Chef Nikolai Patruschew "sowie auch von Präsident Putin" genehmigt.

"Mit hoher Wahrscheinlichkeit"

Das Verdikt hätte nach englischem Recht "mit hoher Wahrscheinlichkeit" zwar nicht vor einem Kriminalgericht, wohl aber in einem Zivilverfahren zur Verurteilung der Angeklagten und ihrer Hintermänner geführt.

Innenministerin Theresa May sprach im britischen Unterhaus von einem "staatlich sanktionierten Mord" und einem "inakzeptablen Bruch des Völkerrechts", nannte Russland "autoritär, aggressiv und nationalistisch". Sie verwies aber auch auf die Notwendigkeit, weiterhin mit Moskau zusammenzuarbeiten, etwa wegen des syrischen Bürgerkrieges. London werde dem russischen Botschafter "starken Unmut" mitteilen, die Konten der beiden Tatverdächtigen Andrej Lugowoj und Dimitri Kowtun wurden gesperrt.

244-seitiger Bericht

Gegen beide bestehen europäische Haftbefehle, seit der Generalstaatsanwalt 2007 Anklage gegen sie erhoben hat. Ihre Auslieferung wird von Russland verweigert, beide beteuern ihre Unschuld.

Owens 244-seitiger Bericht geht dem Leben und Tod des knapp 44-jährig verstorbenen Litwinenko detailliert auf den Grund. Mehr als 60 Zeugen gaben Auskunft. Zusätzlich bediente sich Owen auch diverser Geheimdienstberichte. Dies nahm Moskau am Donnerstag zum Anlass, die Untersuchung insgesamt als "voreingenommen, undurchsichtig und politisch beeinflusst" zu diskreditieren.

Forderung nach Härte

Sprecher der Opposition, aber auch konservative Hinterbänkler drängten die Tory-Regierung David Camerons zu härterem Vorgehen. So fordert Labour die umgehende Ausweisung sämtlicher Geheimdienstmitarbeiter der russischen Botschaft sowie eine Diskussion über die Vergabe der Fussball-WM 2018, die in Russland stattfinden soll.

May sagte die Prüfung einer Liste von Individuen und Organisationen zu, die Litwinenkos Witwe bestraft sehen will. Marina Litwinenko sowie ihr Sohn Anatoli gehörten zu den mehr als 60 Zeugen – Scotland-Yard-Beamte, Atomwissenschafter und Russland-Experten -, die öffentlich vor dem Untersuchungsrichter Auskunft gaben. Hingegen lehnten Lugowoj, heute Abgeordneter, sowie Kowtun die Einladung zur persönlichen Aussage ab.

Flucht nach London

Als Agent des FSB (zeitweiliger Leiter: Putin) hatte Litwinenko in den 1990er-Jahren gegen organisierte Kriminelle ermittelt. Weil er die Korruption staatlicher Behörden öffentlich machte, wurde er entlassen und inhaftiert. 2000 gelang ihm mit Frau und Sohn die Flucht nach Großbritannien. 2006 wurde er britischer Staatsbürger; zu Allerheiligen traf er sich mit Lugowoj und Kowtun in der Pine Bar des Millennium-Hotels. Dort mischte das Duo seinem Opfer – Richter Owen zufolge – das radioaktive Gift in den Tee.

Nach Litwinenkos Tod vermaßen Spezialisten mit Geigerzählern Londons Innenstadt, mehrere Flugzeuge von British Airways mussten vorübergehend aus dem Verkehr gezogen werden.

Ein russisches Gesetz von 2006 erlaubt ausdrücklich die Ermordung sogenannter Extremisten – etwa solcher, "die den Staatspräsidenten verleumden" – durch Staatsorgane im Ausland. Die Entscheidung über staatliche Hinrichtungen fällt dem Gesetz zufolge dieser selbst. (Sebastian Borger aus London, 22.1.2016)