Istanbul – Nachdem türkische Akademiker wegen ihrer Regierungskritik festgenommen wurden, solidarisieren sich immer mehr Intellektuelle mit ihnen. Am Mittwoch veröffentlichten deutsche Wissenschafter eine Onlinepetition und forderten "keine Repression für die Akademiker des Friedensaufrufes in der Türkei". Die Petition hatte am Mittwochabend bereits mehr als 1.700 Unterzeichner.

Ebenfalls am Mittwoch veröffentlichte die deutsche Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico international ein Schreiben, indem sie ihre Solidarität mit den "Akademikern für Frieden" in der Türkei bekundeten. Der Appell wurde von 120 Wissenschaftern aus aller Welt unterzeichnet, darunter die US-Philosophin Judith Butler und der slowenische Kulturphilosoph Slavoj Žižek.

Armee soll Einsatz beenden

Schon in der vergangenen Woche stellten sich rund 430 überwiegen türkische Filmschaffende schriftlich an die Seite der türkischen Akademiker. Zudem veröffentlichten 558 Schriftsteller unter dem Motto "Schriftsteller für den Frieden" ihre Solidarität, 624 Journalisten taten es ihnen gleich.

Grund für diese Solidaritätswelle ist ein vor zehn Tagen veröffentlichter offener Brief mit dem Titel "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein". Rund 1.130 meist türkische Akademiker forderten die Regierung darin auf, die Gewalt im Südosten zu beenden und den Friedensprozess mit den Kurden wiederaufzunehmen. Die Unterzeichner, darunter der US-Sprachwissenschafter Noam Chomsky, forderten, dass die Armee die Waffen niederlegt, und beschuldigten sie, vorsätzlich Massaker zu verüben. Die von der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausgeübte Gewalt wurde in dem Schreiben nicht erwähnt.

Erdogan: Kritiker sind "dunkle Kräfte und Verräter"

Das Schreiben wurde einen Tag vor dem Anschlag eines Selbstmordattentäters veröffentlicht, der sich in Istanbuls Altstadtviertel Sultanahmet in einer Gruppe deutscher Urlauber in die Luft sprengte. Die Türkei macht die Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" für den Anschlag verantwortlich.

Der Appell der Intellektuellen löste ein politisches Beben aus. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kritisierte am Anschlagsort, wo er eigentlich der Opfer gedenken wollte, die Unterzeichner. "Diese sogenannten Intellektuellen sind keine Erleuchteten, sondern dunkle Kräfte und Verräter", sagte Erdogan und unterstellte ihnen, die PKK zu unterstützen. Es mache keinen Unterschied, ob jemand "die Kugeln im Namen einer Terrororganisation abschießen oder ob er Propaganda für sie macht".

Die türkische Hochschulbehörde (YÖK) forderte Disziplinarmaßnahmen für die Akademiker, mehrere wurden bereits vom Dienst suspendiert, 27 wegen "Beleidigung der türkischen Nation" vorübergehend festgenommen. Trotzdem legten die Betroffenen nach und veröffentlichten ein zweites Schreiben mit mittlerweile rund 2.000 Unterzeichnern.

"Angewidert von ihrer Ideologie"

"Wir glauben, dass für einige unserer Mitglieder tatsächlich Lebensgefahr besteht", sagte Turgut Yokus von der türkischen Lehrergewerkschaft in einem Radiointerview. Er berichtete, dass die Bürotüren einiger Hochschullehrer mit roten Kreuzen markiert worden seien, sowie von Bedrohungen und Kündigungen. "Die Regierung muss so schnell wie möglich etwas tun, um zu verhindern, dass noch Schlimmeres passiert."

Genau darauf können die Betroffenen nicht zählen. Denn der Konflikt zwischen den Kurden und Regierung hat sich dermaßen verhärtet, dass ein sachlicher Dialog unmöglich erscheint. Am vergangenen Samstag kritisierte der Vorsitzende der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu: "Akademiker, die ihre Meinungen äußern, wurden einer nach dem anderen festgenommen, und zwar auf Anweisung von jemandem, den man auch als Diktator bezeichnet." Dann fragte er in Richtung Erdogan: "Du Diktatorenverschnitt, was bedeuten Ehre und Würde für dich?" Am Montag zeigten Anwälte des Präsidenten Kilicdaroglu an. Der Vorwurf: Beleidigung des Staatspräsidenten.

Erdogan jedenfalls legte am Mittwoch nochmals nach: "Ich bin angewidert von ihrer Ideologie", sagte er in Richtung der Akademiker. Diese würden sich auf die Seite der PKK stellen, zitierten ihn türkische Medien. (APA, 21.1.2016)