Zhanna Nemzowa bei der Veranstaltung im Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

Foto: IWM

Vor fast einem Jahr wurde der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow auf offener Straße erschossen. Die Ermittlungen gehen nur schleppend voran, Spuren führen jedoch in die russische Teilrepublik Tschetschenien. Deren politisches Oberhaupt, Ramsan Kadyrow, fiel zuletzt durch harsche Kritik an der russischen Opposition auf. Deren Vertreter seien als "Verräter und Volksfeinde" zu behandeln. Genau solche Form von negativer Propaganda, die Hass und Gewalt in der Gesellschaft verbreite, macht Zhanna Nemzowa, Boris Nemzows älteste Tochter, für den Mord an ihrem Vater verantwortlich. Nachdem sie sich in Russland nicht mehr sicher gefühlt hatte, verließ sie im Mai 2015 ihre Heimat und lebt seither in Deutschland.

Fehlender politischer Wille

Bei der Diskussion im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) zum Thema "Russischer Nationalismus" am Dienstagabend in Wien betonte Nemzowa, niemals große Hoffnungen gehegt zu haben, dass der Mord an ihrem Vater vollständig aufgeklärt werden würde. Sie wirft dem russischen Staatsapparat vor, die Ermittlungen nicht ernsthaft zu betreiben, und kritisiert den fehlenden politischen Willen des Regimes: Die Verdächtigen im Mordfall Nemzow seien ihres Erachtens Männer, deren Namen zuvor niemand – weder in Russland noch im Ausland – gehört hätte. Sie dienten im tschetschenischen Bataillon "Sewer", das unter der Kontrolle des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow steht. Auf ihre Forderung, Kadyrow im Rahmen der Ermittlungen zu befragen, erhielten die Hinterbliebenen laut Nemzowa jedoch eine Absage.

"Patrioten" und "Verräter"

Im Rahmen der Diskussion äußerte sich Zhanna Nemzowa jedoch nicht nur zum Mord an ihrem Vater, sondern unternahm auch den Versuch, die russische Gesellschaft – betont auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen – zu analysieren. Die Journalistin bezeichnete das russische Regime dabei als hybrides System, eine Mischung aus Demokratie und Autokratie. Um dieses System zu erhalten, bediene sich die politische Elite Russlands einer neuen nationalen Ideologie, eines wiederentdeckten Patriotismus'. Gemeinsam mit imperialistischem Gedankengut und festgefahrenen archaischen Strukturen werde so versucht, "Instabilität" und "ideologischen Krisen" entgegenzuwirken. Im diesem Rahmen werde die Gesellschaft laut Nemzowa in zwei Gruppen unterteilt: "Patrioten" und "Verräter".

Ohne Loyalität kein beruflicher Erfolg

Diese Polarisierung wird der Journalistin zufolge vor allem durch die effektive Propagandamaschinerie in Russland gefördert. Darin liegt ihrer Meinung nach auch das Geheimnis der ungebrochen hohen Umfragewerte des russischen Präsidenten. Wenngleich es kritische Medien (wie die Zeitung "Nowaya Gazeta" oder den Fernsehsender Doshd) gibt, hält Nemzowa deren Reichweite für zu gering, um viele Menschen zu erreichen.

Der Großteil der Fernsehsender befinde sich unter staatlicher Kontrolle und kritisches Denken werde weder medial noch an Universitäten zugelassen. Nemzowa betonte, dass beruflicher Erfolg an absolute Loyalität gegenüber dem Regime gekoppelt sei. Nur regimetreue Ideologien und Ideen seien an Universitäten und im öffentlichen Raum erwünscht. Aufgrund des Mangels an öffentlicher politischer Diskussion haben junge Menschen meist kaum die Möglichkeit, kritisches Denken zu erlernen.

Veränderung nur durch das Volk selbst möglich

Unter anderem aus diesem Grund habe sich eine gewisse Gleichgültigkeit innerhalb der russischen Bevölkerung entwickelt, glaubt Nemzowa. Die meisten Menschen fallen nicht in eine der beiden Kategorien, seien weder "Patrioten" oder "Verräter". Ein Großteil glaube einfach, dass man am politischen Prozess ohnehin nichts ändern könne. Die Verantwortung, etwas in Russland zu verändern, liegt laut Nemzowa dennoch beim russischen Volk: "Veränderung wird nicht durch die internationale Gemeinschaft herbeigeführt, sondern durch das Volk selbst."

Prozess wird noch lange dauern

Nemzowa erachtet es jedoch als unwahrscheinlich, dass sich die russische Gesellschaft so schnell wie der Ölpreis verändern wird, da soziale Veränderungen bekanntlich Zeit brauchen: "Vor dem Fall der Sowjetunion waren die Menschen in Russland arm und litten an Hunger. Auch damals dauerte es einige Jahre, bis sich etwas in der Bevölkerung regte." Heute gehe es den Menschen vergleichsweise gut, weshalb dieser Prozess noch lange dauern werde. Wenngleich die russische Mehrheitsgesellschaft derzeit noch keine Veränderung fordert, glaubt Nemzowa, dass diese Zeit kommen wird.

Über ihren Platz in der russischen Gesellschaft sagte die junge Frau: "Das mag vielleicht befremdlich wirken, aber ich selbst sehe mich als Patriotin, aus diesem Grund beschäftige ich mich auch mit diesen Themen." An eine baldige Rückkehr in ein Russland, in dem Rechtsstaatlichkeit herrscht, glaubt sie derzeit eher nicht. (Judith Moser, 20.1.2016)