Justizminister Wolfgang Brandstetter ist um Vergangenheitsbewältigung in der Justiz bemüht.

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Wien – Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) bescheinigt der österreichischen Justiz eine mangelhafte Auseinandersetzung in der Vergangenheit mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus. Aus der Außensicht als Strafrechtsprofessor konnte er in den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren keine Vergangenheitsbewältigung beobachten, sagte der Minister bei einer Diskussionsveranstaltung zur Rolle der Justiz vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus am Bezirksgericht Meidling am Montagabend.

Bedrohter Rechtsstaat

Umso mehr lobte Justizminister Brandstetter aktuelle Bemühungen, die Rolle von NSDAP-treuen Richtern und Staatsanwälten auch in der Zweiten Republik aufzuarbeiten. "Gerade in Zeiten von Bedrohungsszenarien für den Rechtsstaat in Europa brauchen wir ein öffentliches Bekenntnis zu unseren Werten und besondere Sensibilität für das, was wir aus der Geschichte lernen müssen", sagte er.

Zu lernen gibt es viel. Denn die Entnazifizierung des österreichischen Justizapparats nach 1945 ist in teilweise haarsträubendem Ausmaß gescheitert, wie die Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal in ihrem Vortrag schildert. Aus dem staatlichen Dienst zu entlassen seien nach dem Verbotsgesetz von 1945 die sogenannten "Illegalen" gewesen – also jene Nationalsozialisten, die bereits während der Zeit des Austrofaschismus der NSDAP angehörten.

Gescheiterte Entnazifizierung

1945 und 1946 wurde fast die Hälfte der Belegschaft aufgrund des neuen Verbotsgesetzes aus der Justizverwaltung entfernt. Dennoch war 1946 im Sprengel des Landesgerichts Wien ein Drittel der Richter ehemalige Nationalsozialisten. Weil aber bald Personalmangel herrschte, wurden andere, ebenfalls belastete Richter und Staatsanwälte wieder eingestellt. "Schon drei Jahre nach Ende des NS-Regimes waren somit die Anfangserfolge der Entnazifizierung weitgehend wieder rückgängig gemacht", sagte Reiter-Zatloukal.

Nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 herrschte lange Zeit eine "Schlussstrich"-Mentalität, stellte die Rechtshistorikerin fest. Erst in den 1960er-Jahren flammte die Debatte wieder auf.

Die Nazis unter uns

Unter dem Titel Die Richter sind unter uns enthüllte der spätere STANDARD-Gründer Oscar Bronner die Nazi-Vergangenheit aktiver Richter in Österreich. Die Replik von Justizminister Christian Broda (SPÖ) trug den Titel: "Die Republik hat den Schlussstrich gezogen. Was 1945 recht war, muss 1965 billig sein." Der Justizminister lehnte jeglichen weiteren Schritt zur Entnazifizierung der österreichischen Justiz ab, alle betroffenen Personen blieben bis zur Pension im Amt.

Brandstetter sieht in der gescheiterten Entnazifizierung auch die Wirkung eines psychologischen Phänomens – vieles wolle man eben nicht wahrhaben. Ein Porträt Otto Tschadeks – SPÖ-Justizminister in den 1950er-Jahren – hängt nach wie vor im Justizministerium, obwohl seine Vergangenheit als Militärrichter im NS-Regime mittlerweile aufgearbeitet ist, erklärt Brandstetter. Das Bild wurde aber mit einer Zusatztafel ausgestattet, die auf die Vergangenheit des Ministers hinweist. (Sebastian Fellner, 20.1.2016)