Flüchtlinge auf dem Weg durch Mazedonien – das Foto stammt von Montag: Das Winterwetter ist gesundheitlich eine zusätzliche Gefahr.

foto: afp/dimitar dilkoff

Wien/Athen/Rom – Die Flüchtlingspolitik der EU und einzelner europäischer Staaten – wörtlich: deren "katastrophales humanitäres Scheitern" – habe 2015 tausenden Asylsuchenden schweren gesundheitlichen Schaden zugefügt. Zu diesem Schluss kommt ein dem STANDARD vorliegender Bericht der weltweit tätigen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, der am Dienstag international veröffentlicht wird.

Umgekehrt ausgedrückt wäre laut dem Bericht "ein Großteil der bei Flüchtlingen festgestellten Erkrankungen problemlos zu verhindern gewesen, hätten die Staaten der EU für sichere Einreisen sowie für Aufnahmebedingungen gesorgt, die humanitären Standards entsprechen".

Abwehr als "Irrglaube"

Ein wichtiger Grund für deren Missachtung liege im "Irrglauben der Politik, dass abschreckende Zustände weitere Flüchtlinge abhalten können", sagt Franz Luef von Ärzte ohne Grenzen Österreich. Diese Einstellung schlage sich auch in zum Teil massiven Arbeitsbehinderungen für Hilfsorganisationen nieder, sei jedoch eine Fehlannahme: Menschen in Notlagen würden sich auch durch noch härtere Fluchtbedingungen nicht abhalten lassen.

Vergewaltigungen in Flüchtlingslagern

So stamme der Großteil der Asylsuchenden aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, aus denen viele Menschen aufgrund von Kriegen und anderen bewaffneten Konflikten nur das Entkommen suchten.

Andere Flüchtlinge befanden sich dem Bericht zufolge auch in den Erstaufnahmestaaten in Lebensgefahr. "Im libyschen Tripolis blieb ich drei Monate. Das ist der schlimmste Platz auf der Welt. Sie haben die Männer von den Frauen getrennt und sich täglich eine von uns genommen, um ihre Lust zu stillen. Also hatten wir keine Wahl – obwohl wir auf See hätten sterben können": So wird eine Frau aus Eritrea zitiert, die im Juli von der Bourbon Argos, einem von drei Rettungsschiffen von Ärzte ohne Grenzen, vor Italien aus dem Meer gefischt wurde.

"Hindernislauf nach Europa"

Konkret listet der Bericht "Obstacle Course to Europe" (Hindernislauf nach Europa) Erkrankungen auf, die Ärzte ohne Grenzen im vergangenen Jahr bei rund 100.000 Konsultationen bei Flüchtlingen in Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und in Italien festgestellt hat: Verletzungen und Erfrierungen, Durchfälle und grippale Infekte. Diese seien als Folgen der lebensgefährlichen Bootspassagen, der tagelangen Gewaltmärsche durch die Balkanstaaten und des Lagerns unter freiem Himmel zu bezeichnen.

Zudem hätten die rund 1.000 Einsatzkräfte der NGO chronisch Kranke – etwa Diabetiker, Menschen mit Nierenschäden und Krebspatienten – vorgefunden, die wegen fehlender Behandlungen in zum Teil lebensbedrohliche Zustände geraten seien: Rollstuhlfahrer etwa, die es auf ihrer Flucht bis auf eine griechische Insel geschafft hatten, dort jedoch ohne jede behördliche Hilfe geblieben waren.

Zudem wurden bei den Flüchtlingen massive psychische Probleme festgestellt: In Griechenland und Serbien diagnostizierten Ärzte-ohne-Grenzen-Mitarbeiter bei 18 Prozent aller Patienten (12.214 Personen) Angstzustände, Panikattacken, Depressionen und andere traumabedingte Folgen.

Traumatisierende Fahrten

Oft hätten diese in Erlebnissen im Krieg oder in Folter gewurzelt. Doch, so der Bericht: "In 70 Prozent der schlimmsten 408 Fälle schilderten die Patienten körperliche Übergriffe, Diebstahl, Beschimpfungen und Einschüchterungen im Zuge ihrer Flucht." Von offiziellen Stellen in Griechenland, Italien und den durchquerten Balkanstaaten würden traumatisierte Personen keinerlei Behandlung bekommen. Für deren künftiges Leben sei das eine schwere Hypothek.

Etwa für jenen Mann aus Syrien, der im Winter 2014 in Serbien mit einem Ärzte-ohne-Grenzen-Mitarbeiter sprach: "Alles in allem wurde ich 33-mal festgenommen. In Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn wurde ich ins Gefängnis geworfen. Warum? Ich verstehe das nicht. Ich habe nichts Falsches getan, habe weder gestohlen noch getötet. Ich bin vor dem Tod geflohen, aber alles, was ich fand, war der Tod", sagte er. Zu diesem Zeitpunkt lebte er allein in einem Wald. Von seiner Frau und seinen vier Kindern hatte er auf der Flucht jede Spur verloren.

Unterdessen gab das UN-Flüchtlingshochkommissariat bekannt, dass in den ersten 16 Tagen dieses Jahres 29.088 Migranten und Flüchtlinge aus der Türkei in Griechenland angekommen seien. (Irene Brickner, 19.1.2016)