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Die erste Auflage (4000 Stück) war gleich weg; derzeit ist das zweibändige Werk nicht lieferbar, die Druckerpressen laufen.

Foto: REUTERS/Dalder

Berlin – Adolf Hitler hatte offensichtlich auch die Bibel gelesen, als er 1924 in politischer Haft seine Bekenntnis- und Programmschrift Mein Kampf verfasste. Über seinen Weg an die Macht gab er darin nämlich folgende Prognose ab: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, ehe ein großer Mann durch eine Wahl entdeckt wird." Der nächste Satz ist auch noch interessant formuliert: "Was wirklich über das Normalmaß des breiten Durchschnitts hinausragt, pflegt sich in der Weltgeschichte meistens persönlich anzumelden." Wenn man so will, war Mein Kampf diese persönliche Anmeldung Adolf Hitlers in der Weltgeschichte. Dass er schließlich auf eine so ungeheuer negative Weise aus dieser herausragen würde, von der wir heute wissen, wäre 1925/26 aber wohl selbst für seinen Größenwahn ein paar Nummern zu groß gewesen.

Das Buch kam früher als die Machtergreifung, nach dem Untergang und Hitlers Tod verfiel es einem Anathema. Zu Beginn dieses Jahres lief das Copyright (Copywrong wäre vielleicht passender) auf den Text aus, das beim Freistaat Bayern lag. Schon bisher war es trotz eines Verbreitungsverbots nicht schwierig, an Mein Kampf zu kommen. Die deutsche geschichtspolitische Öffentlichkeit war auf das Datum vorbereitet, denn schon 2010 begann man am renommierten Münchner Institut für Zeitgeschichte mit dem Projekt Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, das pünktlich zum Abschluss kam: Die erste Auflage von 4000 Stück war am ersten Tag weg, derzeit ist das zweibändige Werk für das Publikum gerade nicht lieferbar, die Druckerpressen laufen.

Kritische Edition

Man muss keineswegs davon ausgehen, dass es vor allem Neonazis waren, die sich die ersten Exemplare sicherten. Sie würden jedenfalls wenig Freude damit haben. Das Vorhaben einer kritischen Edition haben die vier Herausgeber (Vorsitz Christian Hartmann) sehr ernst genommen. Auf der rechten Seite (der Aufschlagseite) gibt es Hitlers Text, links und teils auch darunter finden sich Kommentare und Verweise sonder Zahl – insgesamt 3700.

Mein Kampf wird auf diese Weise förmlich eingezingelt. Man kann in dieser ungeheuer detaillierten Kommentierung nahezu alle Debatten noch einmal erkennen, die um Hitler und den Nationalsozialismus geführt wurden und immer noch werden: etwa die um ein Konzept von "Endlösung" vor dem Auftauchen des eigentlichen Begriffs ("Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-oder" – Was ist in diesem "Oder" schon enthalten?).

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Kritische Editionen dieser Art (Wolfgang Benz zieht nicht von ungefähr den – formalen – Vergleich zu Bibelausgaben) sind in der Regel genealogische Editionen; sie wollen also eine Entstehungsgeschichte nachvollziehbar machen. Das trifft auch hier zu, allerdings ist im Fall von Mein Kampf die Wirkungsgeschichte des Buches und vor allem des Autors so übermächtig, dass der Motivationshorizont, der sich für Hitler für die Mitte der 1920er- Jahre rekonstruieren lässt, immer wieder in die Zukunft geöffnet wird. Diese Zukunft sind Hitlers Jahre an der Macht.

Trotz der enormen wissenschaftlichen Arbeit, mit der Mein Kampf in Schach gehalten werden soll, gibt es auch weiterhin Gegner dieser Veröffentlichung. Bemerkenswerterweise war es die bayerische Politik, die dem Projekt nach einer Israel-Reise des Ministerpräsidenten Seehofer 2013 die Unterstützung entzog. Zuletzt hat sich der in London lehrende Germanist Jeremy Adler gegen die Edition gewandt. Er ist der Auffassung, dass hier trotz Kommentierung ein (als Hetzschrift) "rechtswidriges Werk" veröffentlicht wird. Jeremy Adler ist der Sohn des Schriftstellers H. G. Adler, von dem etwa eines der bedeutendsten Werke über das Lager Theresienstadt stammt.

Die Volksbibel

Um die Kommentierung im Einzelnen ein bisschen besser zu verstehen, lohnt es, zu dem Beispiel vom Politiker und dem Nadelöhr der Wahlen zurückzukehren. Die Autoren verweisen hier nicht einfach auf die einschlägige Stelle im Markus-Evangelium, sondern zitieren eine katholische Volksbibel aus dem Jahr 1925 mit Seitenzahl, für den (unwahrscheinlichen) Fall, dass Hitler eigens nachgeschlagen hat. Und sie greifen aus einer benachbarten Formulierung ein Thema heraus, nämlich Hitlers Geniebegriff, der dann allerdings an ganz anderer Stelle des Wälzers erörtert wird.

Warum man diese bedeutende Arbeit nicht in elektronischer Form zugänglich gemacht hat, bleibt ein Rätsel. Hat aber wohl damit zu tun, dass man dies als ein zu populäres Medium erachtet hat. In den beiden vorliegenden Folianten kann Mein Kampf ziemlich sicher keinen Schaden mehr anrichten, und der Aufklärung ist auf jeden Fall Genüge getan. (Bert Rebhandl, 18.1.2016)