Zvanko Sundov unterrichtete Marxismus und wurde obdachlos.

Die marxistische Dozentin Mira Ljubic-Lorger musste mit Horoskopen ihren Unterhalt verdienen.

Der Kroate Toni Prug ist Soziologe und lebt in London.

Und Zdravko Tomac wechselte vom Marxismus zum Nationalismus.

Zvonko Sundov, Doktor der Philosophie, hat seinen letzten Gehaltsscheck vor 24 Jahren erhalten. Trotzdem besteht der 63-Jährige darauf, die Kaffeerechnung zu begleichen. Die Jahre, in denen er wahrscheinlich der gebildetste Obdachlose Kroatiens war, haben ihn nicht gebrochen: "Die Realität wird für jeden Denker zur Falle." 1991 wurde Sundov von der Schule für Elektrotechnik in Zagreb entlassen. Er gewann alle Prozesse gegen seine Kündigung – in Zagreb und Straßburg. Unterrichtet hat er aber nie wieder, weil es seinen Job nicht mehr gibt. Er unterrichtete Marxismus.

Im sozialistischen Jugoslawien war Marxismus ein Pflichtfach an allen weiterführenden Schulen und Hochschulen. 1989 folgten der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch des Kommunismus, und der amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama verkündete das "Ende der Geschichte", den endgültigen Sieg der liberalen Demokratie und des Kapitalismus. Hunderte Lehrer und Professoren des Fachs Marxismus waren plötzlich ohne Arbeit. Während der großen Wende wurden sie als Boten des Totalitarismus verachtet, die in einer demokratischen Gesellschaft keinen Platz mehr hatten.

Doch nun verändert sich die politische Landschaft Europas: Linke Bewegungen gewinnen aufgrund der globalen Wirtschaftskrise an Einfluss. Anfang 2015 bildete die griechische Syriza, eine aus der Kommunistischen Partei entstandene politische Bewegung, nach ihrem Sieg die erste linksradikale Regierung Europas seit dem "Ende der Geschichte". In Spanien startete Podemos aus dem Nichts und wurde zur dritten Kraft im Land. Deutschlands Partei Die Linke kam vergangenes Jahr im Bundesland Thüringen mit einem demokratisch-sozialistischen Programm in die Regierung, mit einem Spitzenkandidaten, der den Wahlkampf mit einer großen roten Karl-Marx-Büste führte. In Großbritannien sagte der neue Vorsitzende der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, dass Marx eine faszinierende Figur sei, von der man einiges lernen könne. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu erfahren, was aus jenen Marxismusprofessoren, die ihren Arbeitsplatz verloren hatten, geworden war und wie sie das scheinbare Wiederaufleben des Sozialismus sehen.

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Montage oder Demontage von Karl Marx: Hier auf dem Bild musste die Berliner Marx-Statue 2010 wegen eines U-Bahn-Ausbaus abgebaut werden.
Foto: REUTERS/Tobias Schwarz

"Die Zeit des Marxismus kommt noch", behauptet Sundov, als wir in einem Zagreber Kaffeehaus im Mai dieses Jahres Kaffee trinken, und zitiert ein weiteres sozialistisches Idol: "Rosa Luxemburg sagte: 'Sozialismus oder Barbarei', und heute herrscht Barbarei. Syriza und Podemos sind ein menschlicher Akt der Rebellion. Abgesehen vom Marxismus hat der Kapitalismus keinen ernstzunehmenden Feind. Kapitalisten wissen: Wenn sie jemand zerstören kann, dann sind es die Marxisten. Deshalb hat Syriza so viele Probleme bei den Verhandlungen mit der EU."

Sundov macht keinen Hehl daraus, nach seiner Entlassung Schwierigkeiten gehabt zu haben, wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Von seinen Schülern wurde er auf der Straße gegrüßt, doch die Mitglieder des Lehrkörpers, vormals Freunde, wichen ihm aus. Auch seine Ehe wurde geschieden. Seine Exfrau warf ihn in Unterwäsche und Hausschuhen aus der gemeinsamen Wohnung. "Ich schlief auf einer Bank im Bahnhof und im Winter neben Landstreichern in verlassenen Waggons." Er hatte ein normales Leben gehabt, nun stand er auf der Straße. Und die Bücher waren noch in der Wohnung. Doch Sundov musste nicht auf philosophische Begleiter verzichten und zitiert einen Satz von Heraklit: Einer gilt mir zehntausend, wenn er der Beste ist. "Und deren hatte ich zwei", erklärt er: "Hegel und Marx."

1996 meinte es das Schicksal wieder gut mit dem erschöpften Marxisten. In der Kanzlei eines Rechtsanwalts traf er seine zukünftige Frau. Er war dabei, eine Klage gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber einzureichen, sie war wegen einer Verlassenschaft dort. Die glückliche Fügung: Der Rechtsanwalt hatte sich verspätet. "Sie lud mich in ein Café ein und bestellte Sandwiches – und ich hatte keinen Cent in der Tasche." Sundov hatte seit drei, vier Tagen nichts mehr gegessen, war aber zu beschämt, um eines zu nehmen, da er nicht einmal seinen Tee bezahlen konnte. Sie überredete ihn, das Sandwich trotzdem anzunehmen. Mittlerweile leben sie seit 20 Jahren zusammen. Sundov wird bald ein Buch über Hegel veröffentlichen. Es ist das vierte Buch, das er geschrieben hat, seit er mit der Frau zusammenlebt.

Mira Ljubic-Lorger, die einen Doktor in Soziologie hat, ist eine weitere marxistische Dozentin, für die der Zusammenbruch des Kommunismus dramatische Folgen hatte. Bis 1990 arbeitete sie am universitären Forschungszentrum für Sozialwissenschaften in Split, in den Augen der neuen antikommunistischen Regierung Kroatiens eine Brutstätte des Marxismus. Das Zentrum wurde geschlossen – obwohl man dort mit Priestern zusammengearbeitet habe. "Ironischerweise trug mein Projekt den Titel 'Ein Dialog zwischen Christen und Linken'." Es wurde auf halbem Weg gestoppt. Um zu überleben, musste sie sich einem alten Hobby zuwenden: der Astrologie. Sie sollte für die Zagreber Wochenzeitschrift Nacional Horoskope erstellen.

"Mein Sohn wollte wenigstens einmal Fleisch essen", sagt sie. Sie lebten damals nur von Brot und Teigwaren. Sie bat das Magazin, unter einem Pseudonym schreiben zu dürfen, doch man wollte ihren Doktor der Soziologie für die Glaubwürdigkeit. "Ich schämte mich", erzählt sie in ihrer Wohnung in Split. "Entweder das oder der Hungertod als ehrbare Dissidentin. Wegen meiner Kinder konnte ich mich nicht für Letzteres entscheiden." Heute ist sie in Pension und verfolgt die Entwicklungen in Griechenland aufmerksam. "Syriza wird wahrscheinlich scheitern, aber die Tatsache, dass linksorientierte Regierungen in Europa immer stärker Fuß fassen, ist Zeichen einer neue Ära."

1990 arbeitete der Philosoph Dusko Cizmic Marovic am Marxistischen Zentrum in Split, einem von der Kommunistischen Partei unterstützten Politik- und Wissenschaftsinstitut. Nach der Schließung des Zentrums wollte er als ehemaliger Journalist und Herausgeber von Studentenzeitungen seinen Lebensunterhalt mit Schreiben verdienen. Aber dann, erinnert er sich, sei der Krieg zwischen Kroatien und Serbien ausgebrochen und er fand, dass seine Art zu schreiben für das damalige politische Klima "viel zu brav" war. So wurde er Fischer, nahm eine Hypothek auf die Wohnung seiner Frau auf und kaufte sich einen Kutter. Doch das kapitalistische Unternehmen schlug fehl. Zudem verstarb seine Frau an Krebs. Er verlor seine Wohnung, den Fischkutter und stand allein mit zwei Kindern da. Aber er musste eine Wohnung mieten: "Ich warf alle Rechnungen weg, schloss den Strom selbst an und zahlte nicht dafür. Ich lebte von nicht vorhandenem Geld", erinnert sich Marovic, der heute wieder Herausgeber der Universitätszeitschrift Universitas ist, nachdem eine linksliberale Koalition im Jahr 2000 die Nationalisten an der Regierung abgelöst hatte.

Ein Doktor der Philosophie, der auf der Straße lebt, eine Doktorin der Soziologie, die Horoskope erstellt, und ein Journalist als Fischer: Alles Schicksale kroatischer Marxisten nach dem "Ende der Geschichte". Im Gegensatz zu Kollegen an Schulen und Forschungsinstituten ist es den Universitätsprofessoren des Marxismus in Kroatien etwas besser ergangen. Sie waren Philosophen und Soziologen, die auch andere Fächer unterrichten konnten. Lino Veljak lehrte bis 1990 Marxismus und Ontologie an der Universität Zagreb, später nur noch Ontologie. Er erinnert sich, dass einige Kollegen "die Flagge wechselten": "Die überzeugtesten Marxisten wurden Antikommunisten", sagt er: "Und gemäßigte Marxisten blieben weiter gemäßigte Marxisten."

Vom Marxismus zum Nationalismus

Der bekannteste Kroate, der vom Marxismus zum Nationalismus wechselte, ist der 78-jährige Zdravko Tomac, mittlerweile eine intellektuelle Ikone der kroatischen Rechten. Früher arbeitete Tomac mit Edvard Kardelj, dem Erfinder des jugoslawischen Modells der "sozialistischen Selbstverwaltung" und engsten Mitarbeiter des langjährigen jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito. Tomac gesteht, dass Marx in seiner Jugend für ihn eine "Entdeckung" gewesen sei. Deshalb beschloss er auch, Bücher über Selbstverwaltung zu schreiben. Heute ist Tomac der Überzeugung, der größte Irrglaube des Marxismus bestehe darin, dass ein gewaltsamer Sturz des Kapitalismus zu einer besseren Gesellschaft führen könnte. Er verstehe, warum viele anständige Menschen "diesen Schwindel", wie er es formuliert, akzeptiert hätten: "Weil der Kommunismus einige humane Ideen beinhaltet, mit denen sich jeder demokratisch denkende Mensch identifizieren kann. Die These, dass nicht das Finanzkapital, sondern die Einkommensschaffenden diejenigen sein sollten, die das Sagen haben, ist verlockend. Ich kenne viele Menschen, die glaubten, diese Idee sei es wert, sich dafür zu opfern."

Bei jedem Interview schwebt auch der Geist Stalins über dem Aufnahmegerät. Alle hielten es für nötig, sich von ihm zu distanzieren. Syriza sehen sie als Schritt hin zu einem demokratischen Sozialismus in Europa, einem Sozialismus, der sich von der totalitären Version des 20. Jahrhunderts unterscheiden würde. Das Marx'sche Revival habe damit zu tun, dass die europäische Sozialdemokratie nach rechts gerückt und auf der linken Seite eine Lücke entstanden sei. Als die globale Wirtschaftskrise ausbrach, habe eine neue marxistische Generation diesen Platz eingenommen.

Das Ende der Geschichte

Ein Teil dieser Generation traf sich im Mai 2015 in Zagreb: Yiannis Bournous, Mitglied des politischen Sekretariats von Syriza, Antonio Sanchez, ein bekanntes Podemos-Mitglied, und Luka Mesec, der Fraktionsvorsitzende der Vereinigten Linken Sloweniens. Sie alle nahmen an einer Podiumsdiskussion mit dem Titel "The New International" teil. Mesec und Sanchez, beide 27, waren 1989 noch Kleinkinder. Nur der 35-jährige Bournous erinnert sich an das "Ende der Geschichte": "Ich kann mich noch genau an den Abriss der Berliner Mauer erinnern, das Einholen der Flagge der UdSSR auf dem Kreml und den großen Zerfall der Kommunistischen Partei (KKE) Griechenlands", erzählt er mir nach der Diskussion und erwähnt, dass seine Eltern KKE-Mitglieder gewesen sind. Diese jungen Männer erhielten in der Schule keinen Marxismusunterricht mehr und geben doch alle den starken Einfluss des Marxismus auf ihr Denken offen zu. "Wir machen uns die marxistische Denkweise zunutze, um den Kapitalismus zu analysieren und Alternativen zu formulieren", sagt Mesec. "Syriza verbindet marxistische Bewegungen mit der Mitte", ergänzt Bournous. "Der Marxismus ist Wegbegleiter von Podemos, kombiniert mit den Erfahrungen der lateinamerikanischen Linken", erklärt Sanchez.

Eine prominente Unterstützerin von Podemos ist auch Teresa Forcades, eine 49-jährige Nonne, die einen Doktortitel in Öffentlichem Gesundheitswesen und Theologie hat und im Kloster Sant Benet de Montserrat in der Nähe von Barcelona lebt. Wenn sie über die Linken spricht, sagt sie "wir". Ihre linke Orientierung hat sie von ihren Eltern, scharfen Gegnern der faschistischen Diktatur Francos.

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Teresa Forcades in Marganell bei Barcelona
Foto: REUTERS/Gustau Nacarino

"Ich war schon immer eine Linke, und dann wurde die Religion, die ich als 15-Jährige für mich entdeckte, Teil meines Lebens", erzählt Forcades während eines Besuchs in Kroatien im Mai. Auch wenn sie darauf beharrt, keine Marxistin zu sein, schätzt die Nonne Marx: "Liest man Das Kommunistische Manifest, kann man darin den Glauben an den Fortschritt der Menschheit erkennen." Nicht Gott, sondern die Menschen brachten den Kapitalismus. Nicht Gott, sondern die Menschen sind für die Geschichte verantwortlich. Darin stimmt Forcades mit Marx überein. "Wir haben die Welt nicht erschaffen, aber es liege an uns, sie zu vollenden", fügt sie hinzu.

In der Athener Parteizentrale am Eleftherias-Platz sind mehrheitlich junge Menschen zugegen. Die Büros sind beinahe asketisch. "Ja, ich bin Marxist", sagt der 40-jährige Andreas Karitzis, Mitglied des politischen Sekretariats in einem spärlich eingerichteten Raum ohne Computer. Nur ein Motorradhelm liegt auf einem leeren Regal. "Als Linkspartei sind wir der Überzeugung, dass die Logik des Profits und Kapitalismus dabei ist, den Planeten zu zerstören, und zu Massenarmut führt", sagt Karitzis: "Aber im Gegensatz zur Kommunistischen Partei sind wir nicht der Meinung, dass wir direkt vom Kapitalismus zum Sozialismus wechseln können." Er wolle eine Gesellschaft, die sich von der kapitalistischen unterscheidet, aber die müsse man von der Basis aufbauen, nicht durch eine politische Entscheidung von oben.

Einen Versuch einer solchen Gesellschaft gibt es bereits in Athen. Das Stadtviertel Exarchia wird zuweilen das Herz des europäischen Widerstands gegen den Kapitalismus genannt. Es ist Heimat von Anarchisten, dem extremen Flügel der griechischen Linken. Die Polizei ist dort selten anzutreffen, da sie mit Molotowcocktails empfangen wird. Man findet hier keine kapitalistischen Markenfirmen, und die Hauswände sind mit Graffitis übersät. "Die Zukunft ist ungeschrieben", lautet ein Spruch.

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Exarchia, Athen
Foto: AP/Dimitri Messinis

"Sie können hier nicht mit Kreditkarte zahlen, wir akzeptieren nur Bargeld", erklärt mir der 26-jährige Küchenchef Alexander Papadopoulos in seinem Restaurant. "Das ist im ganzen Viertel so. Das ist unsere Form des Widerstands." Der Betonpark im Zentrum von Exarchia ist mit antikapitalistischen Transparenten geschmückt. Junge Menschen diskutieren über Gesellschaft und Politik, während zu ihren Füßen Hunde herumlungern. Eine moderne, urbane Version der Platonischen Akademie: aggressiver als das Original, aber ohne Sklaven. Immigranten sind willkommen.

"Hier sind alle gleich: ich, du, Tsipras", sagt Papadopoulos. "Vielleicht ist so eine Organisation für die Gesellschaft nicht möglich, aber in Exarchia funktioniert es." Ich verbringe zwei Juniabende bei Protesten auf dem Syntagma-Platz im Zentrum Athens: Am Mittwoch wird für Syriza, am Donnerstag dagegen demonstriert. Am Mittwoch sind vor allem Junge da. Sie wissen noch nicht, dass Syriza ein paar Wochen später vor der EU in Sachen Sparpolitik kapitulieren wird.

Am Freitag darauf entdecke ich in London den gleichen Slogan: "Stoppt den Sparkurs". Dieses Mal auf einem Plakat, am nächsten Tag um die Mittagszeit vor der Bank of England im Zentrum der Stadt. Am folgenden Tag drängen sich zehntausende Menschen durch das Bankenviertel. "Wir sind gekommen, um den Sozialstaat zu retten", erzählt mir Angie, eine Lehrerin. "Das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen geht den Bach runter. Wenn wir uns nicht dagegen auflehnen, wird nichts mehr übrigbleiben."

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Anti-Sparkurs-Demo in London, 20. Juni 2015
Foto: REUTERS/Peter Nicholls

Umgeben von unzähligen Transparenten, kann ich nicht mehr unterscheiden, ob ich auf dem Syntagma-Platz, in Exarchia oder im Epizentrum des globalen Kapitalismus bin. Karl Marx, "der Vater des wissenschaftlichen Sozialismus", verbrachte die letzten 34 Jahre seines Lebens in London. Hier wurde Das Kommunistische Manifest 1848 in den Büroräumen in der Liverpool Street 46 gedruckt. Hier wurde Das Kapital geschrieben. Das geistige Zentrum des Marxismus war nicht Moskau, sondern London.

Am Abend, als wir durch Soho spazieren, erzählt der kroatische Soziologe Toni Prug, dass erst London ihn zum Marxisten gemacht habe. "Ich wuchs in Jugoslawien unter dem Kommunismus auf, Politik hat mich nie interessiert", erzählt der 43-Jährige. Dann kam er 1996 hierher und arbeitete ein Jahr an der Rezeption des Alexandra Hotel in Paddington, zehn Stunden pro Tag für drei Pfund die Stunde: "Zwei bulgarische Frauen arbeiteten 14 Stunden täglich für zwei Pfund die Stunde: Sie weinten und schickten das Geld nach Hause." Damals kaufte er sich einen Laptop und begann Marx und Lenin zu lesen. Prug arbeitete zehn Jahre als Programmierer, um sich sein Soziologiestudium zu finanzieren. Er promovierte an der Queen Mary University of London zum Thema "Egalitäre Produktion und Verteilung von Gütern und Wohlstand".

Noch nie so relevant wie heute

Das ist Marx' wichtigster Beitrag, und Prug nennt die Wohnungen in gesellschaftlichem Eigentum in Ex-Jugoslawien: "Wenn du noch ein Kind bekommst, erhältst du ein weiteres Zimmer. Und kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung. Und doch glaubt man im Westen, dass der Staat schlecht ist. Der Kapitalismus verfügt über keine wissenschaftlichen Theorien über Wohnungen in gesellschaftlichem Eigentum, weil sie keinen Profit abwerfen."

Für Prug ist "der Kern von Marx' Arbeit" noch nie so relevant gewesen wie heute, jedoch sei in der Vergangenheit zu viel missinterpretiert worden. "Dennoch hält der Marxismus allmählich Einzug in die europäischen Parlamente", sagt er: "Über Syriza ist er schon dort angekommen." Ob Syriza die marxistischen Ideen verwirklichen kann, bleibt abzuwarten. Nach einer kurzen ersten Amtszeit, die von dem gescheiterten Versuch geprägt war, der EU beim Thema Sparkurs die Stirn zu bieten, gewann die Partei die Wiederwahl im September.

Wir beenden die Geschichte von Karl Marx' Wiederauferstehung auf dem Friedhof von Highgate im Norden Londons. Er liegt hier begraben. Viele Besucher bleiben bei seinem Grab stehen, oft, um Selfies zu machen. Auf einem grauen Granitsockel, der eine Büste von Marx trägt, ist der Aufruf am Ende des Kommunistischen Manifests eingraviert: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch". Am unteren Ende des Sockels lese ich: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert – es kommt aber darauf an, sie zu verändern."

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Karl Marx' Grab auf dem Friedhof von Highgate
Foto: Reuters/Michael Crabtree

Als ich mich am Ende dieser Reise durch das "marxistische Europa" auf dem Highgate Cemetery von dem Mann verabschiede, dessen Gedankengut ich in der Schule auswendig lernen musste, erinnere ich mich an das, was mir der in Mazedonien ansässige Philosoph Ferid Muhic zu Beginn meiner Recherche erzählt hatte. Muhic, selbst Marxist, sagte: "Die Menschen sind keine Wesen großer Ideale, Marxisten können das nicht verstehen. Epikur hat gesagt: 'Ein paar Freunde im Garten, ein Krug Wein und etwas Ziegenkäse – das ist der Sinn des Lebens.' Ich glaube, Epikur lag richtiger als Marx. Das ist die wahre Tragödie der marxistischen Denker." (Damir Pilic, 16.1.2016, Übersetzung: Barbara Maya)