Er ist sozial ungeschickt bis hin zu richtig unhöflich, Hinterbliebene und Verbrechensopfer können bei ihm nicht auf Mitgefühl zählen, Menschen sind ihm manchmal sogar zuwider: Der Ermittler – egal ob Polizei-, Privat- oder sonst was – von heute ist weniger die gebeutelte Figur, die sich mit Alkohol und Drogen über die Runden zu helfen versucht, als vielmehr der psychisch angeknackste oder gesellschaftlich inkompatible Außenseiter.

Egal ob Sherlock oder Carrie Mathison aus "Homeland", das Bromance-Gespann aus "Hannibal" oder der einsame, traurige Detective aus "River" – das Serienreif-Quartett ist diesmal der Frage nachgegangen: Wie seltsam müssen gute Ermittler sein?

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Daniela Rom: Wenn man sich die großen Erfolge der vergangenen Jahre anschaut, anscheinend eher sehr seltsam. Die Frage ist halt, wie man dieses "seltsam" charakterisiert und woher die Seltsamkeit kommt. Bei "River" (übrigens eine fette Empfehlung für alle, die es noch nicht gesehen haben) und "Die Brücke" sind die Hauptermittler zumindest einmal sozial ziemlich inkompatibel – ob sich dahinter ein konkretes Krankheitsbild versteckt, wage ich nicht zu beurteilen. Ist aber auch egal: Der in sich gekehrte, weirde Ermittler ist offenbar die neue Blaupause, die Erfolg garantiert. Auch Sherlock passt in ein ähnliches Muster – wenn auch alle aus unterschiedlichen Gründen seltsam sind. Spannend wird es auch dann, wenn durch diese vermeintlichen persönlichen oder psychischen Unzulänglichkeiten überhaupt erst das Lösen komplexer Fälle möglich wird – ebenfalls wieder "River" und "Sherlock" als Beispiele.

Doris Priesching: Die Psychos unter den Ermittlern nehmen inzwischen pandemische Ausmaße an. Irgendwie darf da offenbar keiner mehr "normal" sein.

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Sherlock in der Buchvorlage ist vor allem ein unsympathischer Besserwisser – also eh nicht so viel anders als in der Serie. Und Watson ist der Fels in der Brandung.
Foto: PBS-Hartwood Films for the BBC, Colin Hutton/AP

Julia Meyer: Es ist halt irgendwie eine Parallelentwicklung zu "echten" Welt. Wo früher alles, was von der Norm abwich, eher als nicht näher analysierte Eigenheit galt, sind solche Eigenheiten heute klarer als Abweichung von einer psychischen Norm gekennzeichnet. Gleichzeitig ist es interessant, dass eine Welt, die immer wirrer erscheint, medial, also zum Beispiel in Serien, eben nicht die ordnenden Heldinnen oder Helden hervorbringt, sondern Menschen, die selber in vielerlei Hinsicht wirr sind. Siehe Carrie bei "Homeland". Von der möchte ich eher nicht beschützt werden. Sie erscheint mir schon nicht mehr reizend labil.

Daniela Rom: Meinst du, früher sei ein Sherlock als nicht abweichend von der psychischen Norm gekennzeichnet wahrgenommen worden, oder verstehe ich da gerade etwas falsch? Es ist ja auch so, dass gerade Detektive und Polizisten gerne als gebrochene Charaktere dargestellt werden. Vor 20, 30 Jahren haben die halt alle gesoffen oder waren unkontrolliert bis gewalttätig, wenn sie für die gute Sache unterwegs waren und die bösen Jungs gefangen haben. Mir scheint, mittlerweile ist der Detektiv eher der psychisch Labile, sehr in sich selbst Gefangene, der über die (vermeintlichen) Defizite zum Superverbrechenslöser wird.

Julia Meyer: Ja, genau, früher haben sie tendenziell eher gesoffen oder waren cholerisch. Heute, so kommt es mir vor, werden die psychischen Knäckse analytischer inszeniert. Und sind dann halt schnell auch krankhaft.

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Carrie Mathison in Homeland.
Foto: Showtime, Kent Smith/AP

Michaela Kampl: Mir kommt vor, dass da zum Teil auch alte Männlichkeitsbilder erodieren. Also das Saufen und Rauchen und Geschiedensein reicht nicht mehr, um als interessante Männerfigur wahrgenommen zu werden. Da füllt dann leicht ein psychischer Knacks diese Leere in der Erzählung. Für Frauen als Hauptrollen scheint es aber zu reichen, so zu tun, als wären sie ein Mann in einem 80er-Jahre-Krimi – also saufen, rauchen und unverbindlichen Sex haben –, um als spannende Frauenfigur zu gelten. Beispiele wären "Kommissarin Lund" oder auch Antigone "Ani" Bezzerides in der zweiten Staffel von "True Detective".

Doris Priesching: Unter diesem Bündel an hysterischen Charakteren sticht für mich Carrie Mathison hervor, ihr Name trägt das "mad" zumindest lautsprachlich schon in sich. Ihr Zusammenbruch am Ende der ersten Staffel war einfach brutal. Das hatte etwas von einer Urgewalt im Niedergang und hat mich sehr berührt. Weil oft wird ja das Kaputte in den Kommissaren erzählt und nicht so sehr in den Folgen dargestellt. Bei Carrie ist die Neurose pathologisch und wird lange Zeit medikamentös verdeckt. Ihr Krankheitsbild – und auch die Behandlung – erinnern stark an Sylvia Plath. Die Isolation, die Gewalt, die Stromschläge und die Einsamkeit haben in der Unmittelbarkeit etwas von der "Glasglocke": Das war einfach schockierend und stark. Spätestens seit der zweiten Staffel werden diese Zusammenbrüche aber als inszenatorisches Mittel eingesetzt, um dramaturgische Defizite auszugleichen. Und seither ist es mit Carrie ein bisschen schwierig. Um nicht zu sagen nervig.

Michaela Kampl: Kleiner Einwurf: Würden wir Carrie auch so nervig finden, wenn sie ein Mann wäre? Und würden bipolare Ausbrüche bei einer männlichen Hauptrolle ähnlich erzählt werden?

Doris Priesching: Interessante Frage. Bei Männern würde man das gar nicht akzeptieren, denk ich. Aber ich kann mich täuschen.

Julia Meyer: Ich bin mir eigentlich recht sicher, dass die Figur dann nicht so nervig wäre. Beweise habe ich aber auch keine dafür.

Daniela Rom: Ich finde den Sherlock in "Elementary" auch supernervig, obwohl er ein Mann ist. Es geht um die Geschichte – und ja, ich bin kein "Homeland"-Fan. Auch weil mir Carrie auf die Nerven geht, aber nicht nur deswegen.

Doris Priesching: Die entrückten Ermittler sind auch Ausdruck eines antiautoritärisierten Gesellschaftsbildes, das in gewisser Weise auch herbeiinszeniert wird. Früher waren die Ermittler Helden mit der weißen Weste und in diesem Sinn so eine Art Idealvaterersatz, jedenfalls eine klärende Instanz. Diese patriarchalen Kommissare waren in der Anfangszeit des Fernsehens immer Männer. Inzwischen sind sie von ihren Podesten gestoßen, aber irgendwie bleiben sie trotzdem geadelt. Ich würde mir mittlerweile auch einmal einen ganz aalglatten, sauberen Polizistenhelden wünschen. Saga Norén aus "Die Brücke" wäre ja theoretisch so eine, allerdings darf sie das nicht bleiben. Eine perfekte Ermittlerin kann offenbar kein perfekter Mensch sein. Man beschädigt damit schon auch Figurenmuster und Geschlechterrollen. Den Frauen gegenüber ist das jedenfalls nicht nett, dass Martin Rohde der Gmiatliche und Menschliche ist und sie die Asoziale. Hervorragend im Beruf, aber menschlich eine Katastrophe. Was wohl Barbara Sichtermann dazu sagen würde?

Der gute Mann und die verrückte Frau, oder auch nicht? Martin Rohde und Saga Norén auf dem Weg zu einem Tatort in "Broen" ("Die Brücke").
Foto: SVT/DR/NRK/ZDF/Carolina Romare

Michaela Kampl: "Die Brücke" ist meiner Meinung nach bei der Geschlechterrollenfrage ein schwieriger Fall. Ich finde es gut, dass eine Frau die asoziale Kollegin spielt, die einen Mann braucht, der das Porzellan, das sie emotional zerdepscht, hinter ihr aufkehrt. Dass dann aber schnell das Anstrengende-Frau-ist-gleich-Zicke-Urteil da ist, wundert mich nicht.

Daniela Rom: Gerade bei "Die Brücke", finde ich, ist das in der Gesamtbetrachtung gar nicht der Fall. Klar, Saga ist die sozial Inkompatible. Aber Martin steigt auch nicht gut aus – er mag zwar sozial agieren können, trotzdem rennt alles schief, auch im Privaten. Und auch der ganze Fall ist ja rund um ihn aufgebaut in der ersten Staffel. Außerdem scheint es eine Art Gegenbewegung zu geben. Nehmen wir nur einmal Detective Solverson aus "Fargo II" (genauso wie die Frau Solverson aus "Fargo I"). Das ist die totale Antithese zu alldem, was wir bisher beschrieben haben. Ein "Normalo" im besten Sinne, freundlich, gewissenhaft, unbestechlich, nett zu Frau und Kind, und der kommt sogar ohne regelmäßige Auszucker in irgendeine Richtung aus. In US-Medien wurde da viel über den "new decent guy" diskutiert. Eine ähnliche Figur ist Watson in der BBC-"Sherlock"-Serie. Der zuckt halt manchmal ein bisschen aus.

Doris Priesching: Ganz oft ist der psychisch angeschlagene Kommissar, Detektiv und so weiter ein Trick, um besser in den Fall hineinzukommen. Wie verleihe ich meiner Figur eine unverwechselbare Identität? Indem ich ihr eine psychische Auffälligkeit gebe. Das wird inflationär eingesetzt und gelingt nicht immer so gut wie bei "Sherlock". Die Frage ist dann, ob die besseren Ermittler nicht sogar einen psychischen Schaden haben müssen, damit sie in dem kranken System, in dem sie sich bewegen, agieren können und ihre Lösungen bringen können.

Michaela Kampl: Das ist wie Schatten und Licht, das eine gibt's ohne das andere nicht. Diese Nähe zum anderen, zum Bösen oder zum Kriminellen, kommt bei Fernsehcops immer wieder einmal vor. Wie beim "Tatort" mit Schimanski oder bei "The Wire". Also eigentlich müssten wir auch mitfragen: Sind die Bösewichte auch seltsamer geworden?

Julia Meyer: Na ja, mir fällt da halt Will Graham bei "Hannibal" ein. Gut, basiert auch auf einer Buch- beziehungsweise Filmvorlage. Aber der nimmt das Prinzip schon ziemlich ernst. Er isst jetzt nicht unbedingt Menschen. Aber die Figur des Profilers wird hier schon ziemlich weit getrieben. Das ständige sich Hineinversetzten in ein krankes Hirn, was immer wieder darin mündet, dass nicht nur Realität und Wahn sich vermengen, sondern die Nähe zum Bösen sogar eine symbiotische Beziehung ergibt.

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Hannibal Lecter kocht gern Nierchen.
Foto: AP/NBC, Brooke Palmer

Michaela Kampl: Der riecht auch mal an ihm. Große Bromance. Symbiotisch sind auch Sherlock und Moriarty.

Julia Meyer: Na ja, dieses Bromance-Ding ergibt sich halt oft aus diesem "Wir sind besser als der Rest". Da ist die moralische Komponente letztlich komplett wurscht. Wichtiger, scheint mir, ist jetzt in diesen beiden Fällen das "Ich einsamer Wolf – du einsamer Wolf", ergo: Wir sind eigentlich das perfekte, natürlich geniale, Paar.

Doris Priesching: Womit wir bei "Akte X" wären. Aber dazu vielleicht ein andermal. (Michaela Kampl, Julia Meyer, Doris Priesching, Daniela Rom, 19.1.2016)