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Proteste von verschiedenen Gruppen nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht am 9. Jänner 2016 in Köln.

Foto: dpa / Oliver Berg

Zwei Ereignisse, die beide heftige Emotionen ausgelöst haben, zeigten kürzlich, wie groß der Graben zwischen den westlichen und den nach wie vor in der arabisch-muslimischen Welt vorherrschenden Werten ist. Einerseits die Entdeckung, dass die Kinder in einigen konfessionellen Kindergärten in Wien Koransuren auswendig aufsagen müssen, dann die sexuellen Übergriffe gegen junge Frauen, die zum Silvesterfeiern ins Kölner Stadtzentrum gekommen waren.

Das Gefühl der meisten von uns lässt sich dabei mit dem Wort "Inakzeptabel!" zusammenfassen. Doch ist diese religiös-patriarchal geprägte Kultur der unseren wirklich wesensfremd? Oder hat sich in ihr noch nicht wie bei uns die Dynamik der Gleichheit – zwischen Mann und Frau, Heterosexuellen und Homosexuellen, Gläubigen und Ungläubigen – durchgesetzt? Worum es in den derzeitigen Diskussionen geht, ist die Frage, ob es den 20 Millionen Muslimen in Europa gelingen wird, einen "europäischen Islam" zu schaffen, der mit den Werten vereinbar ist, die wir als nicht verhandelbar ansehen.

Ich habe lange genug in der muslimischen Welt gelebt (15 Jahre Algerien, Nigeria und Libyen), bzw. habe ich überhaupt lange genug gelebt, um zu wissen, wie es vor knapp einem halben Jahrhundert bei uns ausgesehen hat. Fangen wir mit der Erziehung an. In der französischen Schule in Tripolis wurden meine Kinder Mitte der 90er-Jahre nach libyschem Recht angehalten, Arabisch zu lernen. Ihre muslimischen Schulkollegen hatten zusätzlich Religionsunterricht bei demselben Lehrer, einem Libyer, der bestimmt Gaddafis Geheimdienst informierte.

Keine westlichen Kinder angerührt

Trotz dieser Bedrohung, da ihre Arbeitsgenehmigungen davon abhingen, wehrten sich die Eltern gegen die Art seines Islamunterrichts. Insbesondere Syrer und Iraker, die aus eher laizistischen Ländern kamen, konnten es nicht akzeptieren, dass der Lehrer Geschlechtertrennung verordnete und den Schülern mit Höllenfeuer drohte. Besagter Lehrer hatte aber den Unterschied zwischen "ihnen" und "uns" sehr wohl verstanden: In den Arabischstunden schlug er ohne weiteres Araber und Schwarzafrikaner, rührte aber keines der westlichen Kinder an. Wir Eltern protestierten und wiesen darauf hin, dass das Züchtigungsverbot in einer französischen Schule für alle Schüler gilt.

Dabei war das, was da vor sich ging, nichts Außergewöhnliches. Stures Auswendiglernen, körperliche Züchtigungen und verbale Demütigungen, eine engstirnige, auf Sexualität fixierte Sicht der Religion sind für diesen Unterricht typisch, den man noch in vielen Gegenden Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas findet. Sogar Papst Franziskus, der aus Argentinien kommt, musste erst lernen, dass eine "gesunde Watschen" nicht mehr zu den pädagogischen Instrumenten des 21. Jahrhunderts gezählt werden kann.

Doch ist diese "schwarze Pädagogik" für meine Generation nicht etwas Bekanntes? Man soll sich auch an die Methoden erinnern, mit denen die katholische Kirche früher in Irland oder Polen unverheiratete Mütter bestraft hat. All das ist nicht so weit entfernt. Die Gesetzesreformen, die darauf abzielten, die rechtliche Unterscheidung zwischen ehelichen Kindern und unehelichen aufzuheben, erfolgten in den meisten europäischen Ländern Ende der 60er-Jahre. Desgleichen konnten verheiratete Frauen weder ein eigenes Bankkonto besitzen noch eine außerhäusliche Arbeitstätigkeit ohne Erlaubnis des Ehemannes ausüben.

Ich erinnere mich noch an den Zorn meiner Mutter, einer Juristin, als sie in einem Postamt in Algerien ihre Gehaltsnachzahlungen in bar abheben wollte und der Postbeamte sich weigerte, diese auszuzahlen, ohne dass mein Vater dabei war. Das war französisches Recht, das im unabhängigen Algerien noch gültig war, lange bevor der berüchtigte "Code de la famille" (Familienrecht) 1984 unter dem Druck der Islamisten angenommen wurde. Die Lage war auch in den heute so modernen Niederlanden nicht anders: Bis 1957 war es Frauen im Beamtenstand untersagt, verheiratet zu sein, und Heirat oder Schwangerschaft konnten bis 1976 von einem Arbeitgeber als legitimer Kündigungsgrund angeführt werden.

"Gott erlaubt es"

In Frankreich machte der von Napoleon erlassene Code civil lange Zeit aus den Frauen dem Vater oder dem Ehemann unterworfene Minderjährige – wie heute in Saudi-Arabien. Das Vaterland der großen Revolution war eines der letzten Länder Europas, in dem sie 1945 das Wahlrecht bekamen. Das hatten sie de Gaulle zu verdanken, denn die radikal-sozialistische Linke hatte in der Dritten Republik jeden Gesetzesentwurf in diese Richtung abgeblockt, unter dem Vorwand, dass das schwache Geschlecht unter dem Einfluss der Pfaffen rechts wählen würde.

Ich kannte noch das Italien der 60er-Jahre, in dem Frauen eine Kirche nur mit einem schwarzen Spitzenschleier auf dem Kopf betreten durften. Ich habe miterlebt, wie 1965 eine Amerikanerin im Schwimmbad in Florenz von einer Meute junger Italiener belästigt und verfolgt wurde, weil sie keinen männlichen Beschützer mithatte und einen Bikini trug. Ich erinnere mich an das franquistische Spanien, in dem die Wäscheabteilungen der Großkaufhäuser spezielle Nachthemden für die Hochzeitsnacht verkauften, mit einem an der Stelle des Schambeins geknöpften Dreieck, auf das die Worte "Dios lo permite" ("Gott erlaubt es") aufgestickt waren.

Und in den USA? Die New York Times veröffentlichte einen Dialog zwischen zwei Vorreiterinnen der feministischen Bewegung in den 70er-Jahren, der Richterin am Obersten Gerichtshof Ruth Bader Ginsburg und der demokratischen Senatorin Gloria Steinem. Als die Erste, die ihr Studium in Yale mit Bestnoten abgeschlossen hatte, mit den acht anderen jungen Frauen ihrer Promotion in das Büro des Dekans der Rechtsfakultät eingeladen wurde, stellte ihnen dieser die Frage: "Was können Sie zu Ihrer Rechtfertigung anführen, dass sie neun Männern den Job wegnehmen?" Ruth Bader Ginsburg, die sich später für die Aufnahme des Equal Rights Amendment in die amerikanische Verfassung einsetzte, antwortete seinen Erwartungen gemäß: "Mein Mann studiert auch Rechtswissenschaft, und eine Ehefrau muss verstehen, was ihr Ehemann macht." Keine Anwaltskanzlei wollte sie damals einstellen.

Dieser Rückblick auf eine nicht weit zurückliegende Vergangenheit sollte uns vorsichtig optimistisch stimmen. Bei uns, wie in der muslimischen Welt heute, gab es starke Männer, die sich gegen jeden Fortschritt Richtung Gleichheit stellten, im Namen einer auf den natürlichen Hierarchien begründeten göttlichen Ordnung. Während die katholische Kirche früher die Aufklärung, Darwin und die soziale Gerechtigkeit abgelehnt hatte, hat sie später die Achtung der Menschenrechte, die Gewissensfreiheit und viele weitere ihnen verhasste Ideen aufgenommen. Ihre Haltung gegenüber der Homosexualität (von der Verdammung zur Toleranz: "Wer bin ich, um zu urteilen?", ein Satz des Papstes) bleibt zwar unter den Erwartungen der LGBT-Bewegung, hat sich jedoch seit meiner Jugendzeit radikal geändert.

Die Frage ist, ob der Islam eine ähnliche Entwicklung durchmachen wird oder ob er sich immer mehr verschließt. Beide Optionen sind möglich, beide finden derzeit vor unseren Augen statt, obwohl islamische Bigotterie und ein grauenhafter "Islamo-Faschismus" in zu vielen Ländern blühen. Der Ausgang wird von uns abhängen: Wenn die europäischen Gesellschaften ihre Errungenschaften bewahren wollen, weil sie von ihrem universellen Wert überzeugt sind, dann können sie nicht zulassen, dass sich in ihrer Mitte Zonen herausbilden, in denen eine andere Rechtsordnung gilt. Ein strenges Vorgehen, das nicht die Öffnung dem anderen gegenüber verhindert, ist die einzige langfristig tragfähige Haltung.

Immense Herausforderung

So war das in der muslimischen Welt kritisierte französische Gesetz, das das Tragen religiöser Zeichen in öffentlichen Schulen untersagt, eine notwendige Antwort auf den normativen Druck der Salafisten. Doch Frankreich muss auch seine kompromisslose Sicht des Laizismus aufweichen – vielleicht indem es sich an dem in Österreich geltenden Modell orientiert -, um eine gewisse Kontrolle über die religiöse Ausbildung der Imame ausüben zu können. Frankreich wird hingegen seine Entscheidung von 2006, die Militärdienstpflicht abzuschaffen, bitter bedauern: Sie war ein Integrationsfaktor.

Die derzeitige Krise stellt uns Europäer vor eine Herausforderung, die keine Naivität duldet. Befürchtungen sind legitim. Trotzdem: Ich habe Zweifel an lautstarken Verteidigern "unserer Werte" – z. B. die "Soldaten von Wotan", eine rechtsextreme Bewegung in Finnland, die "Wachen" rund um Migrantenquartiere organisiert. Noch vor einem halben Jahrhundert haben ihre Gleichgesinnten Züchtigungen in der Schule gutgeheißen und waren nie müde, Frauen ihren "naturgegebenen" Platz zu zeigen. (Joëlle Stolz, 16.1.2016)