Nichts verdunstet schneller als die Tochter der Zeit, wenn die ÖVP im Kollektiv einem Erwin Pröll zu Füßen liegt. Einmal will man dieser Partei glauben, und schon ist man angeschmiert. Jetzt also die kollektive Proskynese vor Andreas Khol, dem Mann, der nach eigener Aussage im STANDARD nichts bereut. Das ist schade, könnte er das Bereuen schon bei Anwendung seiner Lebensmaxime beginnen, die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit. Um sie als Lizenz zum Wendehals zu zitieren, hätte man nicht einen Buntschriftsteller des zweiten Jahrhunderts zum "stoischen Philosophen" adeln müssen, denn der hat den Gedanken auch nur bei Sophokles entliehen, ohne ihn allerdings so für politische Zwecke zurechtzubiegen, wie es der Enkel eines Kaiserschützenhauptmannes und Ritters der Eisernen Krone tut. Dort dient die Sentenz nicht zur Rechtfertigung von politischem Machtstreben, sondern sie will uns sagen: Die Zeit bringt die Wahrheit ans Licht.

Was die Segnungen der schwarz-blauen Koalition schlechthin betrifft, hat die Zeit bessere Arbeit geleistet als so mancher Untersuchungsausschuss und so manches Gerichtsverfahren. Als ihr Einpeitscher war für Khol das Uminterpretieren einer FPÖ außerhalb des Verfassungsbogens in eine FPÖ innerhalb dieses Bogens kein Problem. Wenn er jetzt meint, man könne die Geschichte nicht uminterpretieren, will er gewährleisten, dass Schüssels Regierung doch noch als Heldensage interpretiert wird und nicht als Kind einer Wählertäuschung.

Schnee von gestern, könnte man sagen, wären da nicht die Erwartungen, die die Österreicherinnen und Österreicher in ein Staatsoberhaupt setzen. Die sind sicher nicht bei allen gleich, sie dürften zwischen Staatsnotar und Halbdiktator pendeln, aber wo Parteien dafür kritisiert werden, ihre Mäntelchen nur zu oft nach dem Wind des Populismus zu drehen, wollen sie sicher jemanden, der statt "speed kills" eine gewisse Beständigkeit in seiner Interpretation von Wahrheit walten lässt.

I mog des Land, i mog die Leit", biederte er sich in einer ersten Aufwallung an, ein Anfall von wahltaktischer Empathie, der sogleich die Erinnerung an die "roten Gfrieser" wachrief, die er einmal beim Aufkochen einer seiner Wahrheiten unter "die Leit" ausgemacht hat. Jetzt wäre es natürlich praktisch, wenn man die Geschichte uminterpretieren könnte. So aber wird er wohl das Standardversprechen aller Hofburgkandidaten, Bundespräsident für alle Österreicherinnen und Österreicher sein zu wollen, im Hinblick auf die "roten Gfrieser" ein wenig spezifizieren müssen. Sollte kein Problem sein. Eva Glawischnig hat er auch schon vom Makel des Marxismus befreit, den er ihr unverdient angeheftet hatte.

Die ÖVP-Granden, die Erwin Pröll zu Füßen lagen, haben schon gewusst, was sie, wenn letztlich auch vergeblich, wollten. Der hätte keinen Aulus Gellius bemühen müssen. Und sich gegen das Uminterpretieren von Geschichte zu spreizen wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Von der Wahrheit hätte er höchstens einmal angedeutet, sie sei eine Tochter des Raums. Des ländlichen, und sie wohne im Lagerhaus. So viel Glaubwürdigkeit – und dann diese vergebene Chance! (Günter Traxler, 14.1.2016)