Ankara/Wien – Die Hinweise häufen sich: Die Türkei soll systematisch syrische Flüchtlinge zurück in das Bürgerkriegsland abschieben. Dies berichtete bereits Mitte Dezember Amnesty International, und dies wollen nun gemeinsam auch Human Rights Watch und das ARD-Magazin "Monitor" erfahren haben. Dies wäre ein klarer Bruch des völkerrechtlichen Grundsatzes der Nichtzurückweisung (non refoulement). Dieser besagt, dass Flüchtlinge und Asylsuchende nicht dorthin zurückgeschickt werden dürfen, wo ihr Leben und ihre Freiheit bedroht sind oder ihnen Folter droht – was in Syrien unbestritten der Fall ist.

Die am Donnerstag publik gewordenen Vorwürfe berufen sich unter anderem auf Videoaufnahmen, auf denen hunderte syrische Flüchtlinge zu sehen seien, die von der Türkei zurück in ihr Heimatland gebracht werden. Der von Amnesty International Mitte Dezember veröffentlichte Bericht "Europe's Gatekeeper" basiert neben Videos und Fotos auch auf Aussagen von dutzenden Flüchtlingen. Diesem zufolge werden Syrer in zwei Haftanstalten in Erzurum und Osmaniye ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten, bis sie abgeschoben werden. "Die Türkei lässt niemanden hin, es ist extrem schwierig, Infos zu erhalten", sagt Anna Shea, bei Amnesty für Flüchtlingsfragen zuständig, dem STANDARD.

Türkei verweist auf UNHCR

Die Reaktion der türkischen Regierung damals wie heute: Sie dementiert, dass derlei Abschiebungen durchgeführt werden, und verweist darauf, dass dies im Geheimen gar nicht möglich wäre, da das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR ja die türkisch-syrische Grenze beobachte. "UNHCR hat gar nicht die personellen Ressourcen, um die über 800 Kilometer lange Grenze lückenlos zu beobachten", entgegnet Shea. Überhaupt hätte sich die Situation seit der Veröffentlichung des Amnesty-Berichts sogar verschlechtert. "Flüchtlinge berichten uns von einem Aufstand in Erzurum Anfang des Jahres, bei dem ein Mensch gestorben sein soll", sagt Shea und beklagt die fehlende Transparenz, um die Aussagen überprüfen zu können.

Heikel ist die ganze Angelegenheit auch für die EU, hat sie mit der Türkei Mitte Dezember doch einen Aktionsplan vereinbart, um die Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa drastisch zu reduzieren. Im Gegenzug sollen unter anderem jährlich drei Milliarden Euro an Finanzhilfen in Richtung Südosten fließen. Abgesehen davon, dass die Zahl der neuankommenden Flüchtlinge in Europa unverändert hoch ist und die EU dies bereits moniert hat: Von der völkerrechtlich höchst fragwürdigen Abschiebung von syrischen Flüchtlingen war nie die Rede. Offiziell hat Ankara dies auch immer ausgeschlossen.

Kritik an der Europäischen Union

Lotte Leicht, EU-Direktorin von Human Rights Watch, kritisierte, dass die EU das Vorgehen der Türkei in Kauf nehme und dadurch Flüchtlinge in gefährliche Situationen bringe. "Es geht nur darum, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren", sagte Leicht. Die EU gab am Donnerstag bekannt, "keine bestätigten Informationen" über die Abschiebung von Syrern durch die Türkei zu haben. Die EU-Kommission stehe aber in Kontakt mit den türkischen Behörden und bemühe sich auch um einen Lokalaugenschein, um die Situation zu klären.

Derzeit leben etwa 2,3 Millionen Syrer in der Türkei. Anfang der Woche gab Ankara bekannt, syrischen Flüchtlingen Arbeitsgenehmigungen zu erteilen, damit sie nicht in Richtung Europa weiterziehen. (ksh, 14.1.2016)