Bild: That Dragon, Cancer
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Joel Evan Green stirbt im März 2014 mit fünf Jahren an Krebs. Seit seinem ersten Lebensjahr kämpfte das Kind mit seiner Familie ums Überleben in einer Welt von Chemotherapie, Schmerzen und Angst. Der Kampf gegen den "Drachen Krebs" ist lang, zermürbend und letztlich vergeblich – eine Tragödie, die in ihrer Schmerzhaftigkeit, aber auch Alltäglichkeit so gar nicht zur bunten, eskapistischen Welt der Videospiele zu passen scheint.

"That Dragon, Cancer" (Windows, Mac, Ouya, 13,99 Euro), das soeben erschienene autobiografische Spiel über das Leben und Sterben eines Kindes, ist ein unerhörtes Unikat. Noch während des Kampfes gegen den Krebs beginnen Amy und Ryan Green, Joels Eltern, mit der Arbeit am Spiel, als Bewältigungsstrategie, aber auch, um ihre Erfahrungen zu teilen. Finanziert durch eigene Ersparnisse, eine Kickstarterkampagne und die Unterstützung durch den Indie Fund und den Mikrokonsolenhersteller Ouya verwirklichen die Greens ihr Projekt. Die 2016 anlaufende Dokumentation "Thank You For Playing" widmet sich der Entstehungsgeschichte des Spiels.

Schmerzhafte Momentaufnahmen

"That Dragon, Cancer" ist kein traditionelles Spiel geworden. In kurzen interaktiven Vignetten zeigt es Momentaufnahmen aus dem Leben der Familie Green: Besuche im Park, immer wieder Krankenhausszenen, aber auch surreale, symbolische Tableaus, in denen die unsichtbare, abstrakte Bedrohung durch den Krebs als nervös flirrende Albtraumvision im Hintergrund lauert. Die Spielerinnen und Spieler wechseln wieder und wieder die Perspektive, oft auch innerhalb derselben Szene, sind einmal als Mutter, Vater, Arzt oder auch als die Szene umfliegende Möwe mittendrin in diesen Erinnerungsbildern, die durchgängig von Originaltonbandaufnahmen, Dialogschnipseln und Tagebucheinträgen unterlegt werden.

Der minimalistische Grafikstil verweigert den Figuren in seiner Low-Poly-Ästhetik alle Gesichtszüge, doch intimer, persönlicher und differenzierter wurden Menschen in Videospielen niemals gezeigt. "That Dragon, Cancer" zwingt seine Spielerinnen und Spieler nah heran, in eine durchaus schmerzhafte Nähe, und überwältigt in seinen beeindruckendsten Momenten nicht durch den thematisch naheliegenden platten Druck auf die Tränendrüse, sondern, als Videospiel, durch seine Interaktivität: indem es die Machtlosigkeit angesichts des vor Schmerzen unablässig schreienden Kindes erfahrbar werden lässt, indem es sein Publikum etwa vor der Überzahl an real eingesandten und ins Spiel übertragenen Gruß- und Beileidskarten in stumme Überforderung, an anderer Stelle sogar zum Aufgeben zwingt. Dass mehr Interaktivität, mehr und innovativere Spielmechaniken diese Stärke des Mediums noch deutlicher zum Ausdruck hätten bringen können, ist ein Kritikpunkt, der wohl jeder Pionierleistung entgegengebracht wird.

Ein Denkmal des (Über-)Lebens

"That Dragon, Cancer" ist trotz des religiösen Backgrounds der Greens und im Spiel angesprochener christlicher Themen zum Glück weit davon entfernt, simple Glaubensphrasen abzuspulen. Differenziert werden die unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien der Familienmitglieder dokumentiert, das Staunen oder Entsetzen über die eigene Reaktion auf die letzte, verheerende Diagnose thematisiert, Verzweiflung, Hoffnung, aber auch ganz einfach das Überleben nach dem Tod zur Sprache gebracht.

Es ist kein Spoiler, zu sagen, dass in der letzten Szene, nach etwa zwei erschütternden, berührenden Stunden, nach dem Tod, nach dem Ende der Geschichte, aller Tragik zum Trotz ein strahlendes, durch Tränen lächelndes Ende steht. "That Dragon, Cancer" ist ein interaktives Denkmal nicht eines Todes, sondern eines wenn auch kurzen Lebens. Es ist so etwas wie ein Schrein, nicht nur für Joel, sondern für den Kampf vieler anderer. Dabei finden die Greens Bilder, die in ihrer Abstraktion mehr vermitteln, als es die reinen Fakten je könnten. Reale Tragik und Trauer in Bilder und Szenen großer Schönheit zu verwandeln, ist die eine große Leistung dieses Spieles.

Die andere ist die konsequente Weiterführung des Mediums Videospiele hin zu mehr als einem des reinen Eskapismus. Müssen Videospiele Spaß machen? In der Beantwortung dieser Frage spaltet sich das Publikum verlässlich in zwei Lager. Wenn Spiele als Medium irgendwann gleichberechtigt neben den älteren Kulturmedien Film, Literatur, Theater, Musik stehen wollen, haben sie wohl sogar die Pflicht, diese Frage mit "Nein" zu beantworten.

Numinous Games

Ein Meilenstein

Spiele dürfen erschüttern, verunsichern, zornig, nachdenklich und traurig machen, genauso wie sie begeistern, faszinieren und – natürlich – unterhalten dürfen. Kunst ist seit jeher der Versuch, Emotionen teilbar zu machen, den Standpunkt des Künstlers seinem Publikum erfühlbar werden zu lassen, die tragische Unteilbarkeit menschlicher Erfahrung zu überwinden.

Videospiele sind – natürlich – auch dazu in der Lage. Als Beweis dafür ist "That Dragon, Cancer" ein Meilenstein für das Medium, auf den man noch lange verweisen wird. Ein wichtiges, nahe gehendes Spiel. (Rainer Sigl, 14.1.2016)

"That Dragon, Cancer" ist für Windows, Mac und Ouya erschienen. UVP: 13,99 Euro.