Diese Aufnahme zeigt die entzündete und beschädigte Zwölffingerdarmschleimhaut eines Mädchens mit homozygoter LBRA-Mutation. Das Gen LBRA trägt den Code für ein Protein mit noch ungeklärter Funktion, seine Moleküle scheinen eine immunregulatorische Rolle zu spielen.

Foto: CeMM

Kaan Boztug: "Wir werden auch künftig die Grundlagen seltener Krankheiten erforschen."

Wien – Die erste Diagnose lautete: Lungenentzündung. Dem sechsjährigen Mädchen ging es gar nicht gut, und das nicht zum ersten Mal. Schon oft war es mit Atemwegsinfekten beim Arzt vorstellig geworden. Diesmal jedoch bemerkte der behandelnde Mediziner auch diverse verhärtete Lymphknoten. Das Blutbild zeigte zudem niedrige Immunglobulin- und Antikörperkonzentrationen. Litt das Kind unter einer Abwehrschwäche?

Eine Biopsie brachte weitere Details ans Licht. Die aus einer der krankhaften Lymphknoten entnommene Gewebeprobe enthielt Krebszellen, und das Geschwulst wurde als ein sogenanntes Non-Hodgkin Lymphom identifiziert. Derweil fand man auch die mutmaßlichen Auslöser der Tumorerkrankung. Im Blut der kleinen Patientin tummelten sich massenhaft Epstein-Barr-Viren, kurz EBV. Normalerweise sind sie als Erreger des eher harmlosen Pfeifferschen Drüsenfiebers bekannt. Bei immungeschwächten Menschen jedoch führt eine EBV-Infektion mitunter zur Entstehung von Lymphomen, erklärt der Facharzt Kaan Boztug. Dann besteht Lebensgefahr.

Seltene Mutation

Der oben beschriebene Fall indes war ein besonders komplexer. Boztug hat das Erbgut des Mädchens analysiert und konnte so die eigentliche Ursache der Krebserkrankung dingfest machen. Das Kind trug eine äußert seltene Mutation, welche zu einem Defizit des Enzyms ITK führt (vgl.: Pediatric Blood and Cancer, Bd. 62, S. 2247). Bei einem Mangel dieses Stoffs wird eine biochemische Signalkette für das Heranreifen von einsatzfähigen NTK-Zellen und CD4+ T-Zellen gestört. Letztere sind gewissermaßen Spezialtrupps unseres Immunsystems. Ohne sie gelingt es zum Beispiel nicht, Epstein-Barr-Viren dauerhaft in Schach zu halten.

Für Kaan Boztug ist das Aufspüren von Gendefekten wissenschaftlicher Alltag. Der Gruppenleiter am Zentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wird das in diesem Jahr zu gründende Ludwig-Boltzmann-Institut (LBI) für seltene und undiagnostizierte Erkrankungen leiten. Man schätzt, dass es an die 8000 verschiedene Typen solcher Krankheiten gibt, sagt der renommierte Experte. Sie treten definitionsgemäß bei weniger als einer Person unter 10.000 auf, die meisten sind allerdings noch viel seltener. Dennoch dürften allein in Österreich rund 400.000 Menschen betroffen sein. Die Gesamtmenge ist also durchaus relevant.

Oft werden die Defekte erst spät diagnostiziert, bei den Patienten kommt es deshalb leicht zu Folgeschäden. Man kann eine zunächst unerkannte Krankheit schließlich weder frühzeitig behandeln noch eine Sekundärprophylaxe gegen die mit ihr verbundenen Gesundheitsrisiken betreiben.

Die daraus resultierenden Kosten für die Gesundheitssysteme sind gewaltig. Auch das menschliche Leid darf nicht unterschätzt werden. Eine Schwester des eingangs erwähnten Kindes war bereits vorher an Lymphdrüsenkrebs gestorben, das Mädchen selbst erlag nach langer Krankheit Metastasen im Gehirn. Ihr jüngerer Bruder landete während dieser Zeit ebenfalls im Spital – mit einer schweren, akuten EBV-Infektion.

Schon bald darauf entwickelten sich bei ihm die ersten Lymphome. Bei beiden Geschwistern wurde der besag- te ITK-Gendefekt nachgewiesen, und auch die zuvor verstorbene Schwester war höchstwahrscheinlich Trägerin. Die Erforschung seltener Erbleiden hilft indes nicht nur den Betroffenen, sie trägt auch zum besseren Verständnis grundlegender physiologischer Prozesse bei.

Zusammenspiel der Moleküle

Man erkennt die Bedeutung einzelner Genprodukte im komplexen Zusammenspiel der Moleküle. Grundlagenforschung und Medizin gehen Hand in Hand. Kaan Boztug und seine Wiener Kollegen sind international bestens vernetzt.

Um mehrere Patienten mit den untersuchten Krankheiten ausfindig machen zu können, ist ein grenzüberschreitender Blick unerlässlich. Der Informationsaustausch muss gleichwohl effizienter werden, betont Boztug. Eine neue Datenbank sei im Aufbau.

Für die Identifikation bislang nicht bekannter autosomal vererbbarer Krankheiten arbeitet Boztug mit dem sogenannten "homozygosity mapping": Die Methode basiert auf der Präsenz von SNPs, einzelnen, variablen Bausteinen, in benachbarten DNA-Abschnitten.

Identische Gensequenzen

Sie dienen als potenzielle Erkennungsmerkmale für identische Gensequenzen. Besonders häufig zu beobachten ist das bei Verwandtenehen: Finden sich bei zwei Kindern von blutsverwandten Eltern auf einem bestimmten Chromosom dieselben SNP-Muster, ist dies ein Hinweis auf ebenfalls gleich strukturierte, dort gelagerte Gene. In Kombination mit modernen Sequenziermethoden lassen sich zugrunde liegende Gendefekte identifizieren.

Ein Erbgutschaden, der so entdeckt wurde, betrifft das Gen LRBA. Es trägt den Code für ein Protein mit noch nicht eindeutig geklärter Funktion. Seine Moleküle scheinen jedoch eine wichtige immunregulatorische Rolle zu spielen.

Boztugs Team analysierte 2014 die Gene eines 14-jährigen Mädchens mit chronischen Darmentzündungen und fand eine bis dahin unbekannte Mutation in LBRA (vgl.: Inflammatory Bowel Diseases, Bd. 21, S. 40).

Das defekte Protein löst offenbar eine Autoimmunreaktion aus. Schwere Verheerungen an der Darmschleimhaut sind die Folge. Die Eltern des Mädchens waren Blutsverwandte aus der Türkei.

"Wir werden auch zukünftig die genetischen Grundlagen seltener Erkrankungen erforschen, um ihre molekularen Mechanismen zu verstehen und Therapien dagegen zu entwickeln", sagt Boztug. Viele Leiden wie die ITK-Defizienz seien grundsätzlich heilbar, zum Beispiel durch rechtzeitige Knochenmarktransplantation. (Kurt de Swaaf, 18.1.2016)