Früh am Morgen geht's vom selbstgebauten Biwak in einer Schneewechte im Rofangebirge wieder talwärts.

Foto: Monika Hippe

Der Himmel leuchtet postkartenblau, und die Eiskristalle glitzern in der Sonne wie Diamanten. Bei jedem Schritt bergauf knarzen die Schneeschuhe. Die Riemen des Rucksacks drücken auf die Schultern. An diesem Tag wiegt er besonders viel. Darin befinden sich nicht nur Proviant und Wechselwäsche, sondern auch Kochgeschirr, Schlafsack, Taschenlampe und eine Schaufel. Die schwer beladenen Wanderer wollen die Nacht im Tiroler Rofangebirge in einer selbstgebauten Schneehöhle, einem Winterbiwak, verbringen.

"Richtig gebaut, friert man darin nicht", sagt Christian, der Gruppenleiter. Bei ihm ist der Bau einer Schneehöhle kein Notfall, sondern Programm. Seit knapp 30 Jahren bietet er über den Alpenverein Gebirgstouren an. Daran nehmen Menschen aller Altersgruppen teil, mal baut er mit ihnen ein Iglu, mal eine Schneehöhle, oder man übernachtet im Zelt – je weiter von der Zivilisation weg, desto besser. Von ihm lernen die Schnupper-Biwakierer nicht nur, wo man in freier Natur übernachten kann, sondern auch, wie man die Lawinengefahr einschätzt und welche Wolken einen Wetterwechsel verheißen.

Der Glockner am Horizont

Die erste Pause ist der Lawinenkunde gewidmet. Christian erklärt die Lawinenverschüttetensuchgeräte (LVS) und prüft deren Funktionen, jeder trägt ein Gerät um den Bauch. Besonders anstrengend ist es, ganz vorn als Erster durch den Tiefschnee zu pflügen. Das letzte Stück zu dem rund 2.260 Meter hohen Grat führt an einem steilen Hang entlang, am Horizont ragen der Großglockner und seine Nachbarn empor. In einer Senke soll das Nachtlager entstehen. Dort malt Christian mit seinem Skistock den Grundriss in den Schnee und erklärt die Bauweise. "Die Schlafplätze dürfen gerade so groß sein, dass ihr mit dem Gepäck hineinpasst, sonst wird's zu kalt", sagt er und testet mit einer Sonde die Höhe einer Schneewechte.

In drei Stunden entstehen aus Löchern richtige Höhlen. Immer wieder wechseln die Schaufeln den Gräber, denn der Schnee ist hart wie Stein, und schon nach wenigen Minuten rinnt vor Anstrengung der Schweiß über den Rücken. "Jetzt nur noch die Wände glattstreichen, damit sich nachts durch die Atmung keine Tautropfen bilden", sagt Christian. Als die Sonne hinter die Bergkuppen sinkt, sind die Eigenheime aus Eis endlich bezugsfertig.

Frost nagt an den Gliedern

In der Dunkelheit hocken alle vor den Höhlen auf selbstgezimmerten Bänken aus Schnee. Eingepackt in Daunenjacken und Fäustlinge schlürfen sie Glühwein und erzählen sich dabei frühere Outdoor-Erlebnisse. Im Kerzenlicht tanzen die Schatten der Hauben im Schnee. Jeder hat sein eigenes Abendessen mit: Packerlsuppe, Bergkäse und Kaminwurzen, auf einem Gaskocher brodelt vorgekochtes Chili. Das "Örtchen" ist frei wählbar, irgendwo da draußen abseits des heimeligen Kerzenscheins. Sicher ist, dass dort keiner unnötig lang sitzen bleibt, obwohl der Blick auf den Mond fantastisch ist.

Irgendwann nagt der Frost an den Gliedern und der Erste krabbelt in sein Schlafabteil, kleiner als eine Doppelbetthälfte. Statt Pyjama zieht man einen zusätzlichen Pullover an und setzt eine zweite Haube auf. Ein Kaugummi dient als Ersatz fürs Zähneputzen. Schließlich liegt man wie ein dick verpacktes Michelinmännchen eng an den Nachbarn gekuschelt, damit die Wärme nicht entweicht. Nachdem der Letzte die Taschenlampe ausgemacht hat, ist es dunkel wie in einem Sarg – und mucksmäuschenstill. Der Schnee isoliert jedes Geräusch.

Einstürzende Schneebauten

Mitten in der Nacht weht plötzlich ein Schleier aus Eiskristallen herab. Jemand hat sich umgedreht und die Wand berührt. Die Gedanken an "einstürzende Neubauten" verschwinden zum Glück schnell wieder. Schließlich hat Schnee-Architekt Christian Erfahrung mit dem Bau solcher Konstruktionen.

Als nach einem erholsamen Schlaf der Morgen dämmert, frisst sich die Kälte langsam durch die Isomatte. Das Aufstehen kostet die größte Überwindung. Alles außerhalb des Schlafsacks ist kalt und feucht. Hier gibt es niemanden, der heißen Preiselbeersaft ans Bett bringt, wie in komfortablen Eishotels. Glücklich ist der, der seine Bergstiefel mit "ins Bett" genommen hat und nun in einigermaßen warme Schuhe schlüpfen kann.

Dichter Nebel hüllt die Berge ein, Frau Holle hat ganze Arbeit geleistet: Christian befreit das liegengebliebene Kochgeschirr von Schnee. In viel kälteren Nächten, erzählt er, wuchsen ihm schon Eiszapfen am Bart. Es ist noch heißes Wasser übrig, Porridge, Müsliriegel und Brote vom Vortag. Bald ist alles in den Rucksäcken verstaut, ein letzter Blick fällt auf die vergänglichen Schlafzimmer, in ein paar Wochen sind sie womöglich geschmolzen. (Monika Hippe, 10.1.2016)