Tokue (Kirin Kiki) beim Backen der Pfannkuchen für die Dorayaki. Ein bisschen Freiheit, die die alte Frau noch einmal aufblühen lässt.

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Wien – Es ist laut: der Verkehr, das Rattern der U-Bahn, sogar das Rauschen des Windes in den Ästen der Kirschbäume. Dabei sind gerade sie ein Ruhepol für die Augen. Denn es ist Frühlingsanfang, die Zeit der Kirschblüte, ein Höhepunkt im japanischen Kalender. Die weißen, luftigen Wolken, die sich über den Straßen auftun, sind Symbol für Schönheit, Vergänglichkeit, Aufbruch. Davon erzählt Naomi Kawases neuer Film.

Und davon, dass die Dinge ihren eigenen Willen haben, dem sich der Mensch fügen muss. Eine japanische Teezeremonie ist deshalb nie bloß das Aufgießen von heißem Wasser, sondern stets vor allem eine geistige Übung in Bewusstheit und Angemessenheit.

Selbiges gilt für die Herstellung von An, der süßen Bohnenpaste, die Kawases Streifen im Original den Namen leiht und zwischen zwei Pfannküchlein geschmiert köstliche Dorayaki ergibt. In seiner kleinen Imbissbude im Schatten eines Kirschbaums irgendwo in Tokio verkauft Sentaro (Masatoshi Nagase) den süßen Snack. Das An dafür kommt allerdings vom Großmarkt und das Geschäft läuft mäßig, bis Tokue (Kirin Kiki) sich um eine Stelle als Aushilfe bewirbt.

Hausgemacht schmeckt besser

Erst will Sentaro die alte Frau mit den verbogenen Fingern nicht einstellen, dann probiert er aber das von ihr mitgebrachte, selbstgemachte An. Wie entgleitet ihr die Miene, als sie feststellt, dass das "Firmengeheimnis" hinter seinem Muß-Rezept einen Plastikkanister meint? O tempora, o mores! Ab jetzt stehen sie jeden Morgen gemeinsam in der kleinen Küche und bereiten die dunkle Paste vor.

Fast eine Viertelstunde lang schaut Kawasa den beiden dabei über die Schulter: beim sorgfältigen Auswählen der geeigneten Azuki-Bohnen, beim Abwarten, bis der Dampf vom Kochen anders riecht, beim Unterrühren des Zuckers. Eine Schlüsselszene. Was nämlich nach Langeweile klingt, ist alles andere als das. Stattdessen entwickelt sich auf physisch wie szenisch engstem Raum ein Drama aus lange Ungesagtem: Tokues Wunsch, gebraucht zu werden, den Gründen für Sentaros traurige Augen und den Sorgen des Mädchens Wakana (Kyara Uchida), das hier täglich isst.

Das Poetische entlocken

Naomi Kawases filmische Meditationen sind seit gut 20 Jahren Fixstarter sowie Preisträger bei internationalen Festivals. Etwa jenem in Cannes, das Kirschblüten und rote Bohnen im vergangenen Jahr eröffnet hat. Immer wieder erzählen sie von realistischen Problemen oder Alltagssituationen, denen die Regisseurin mit ruhiger Hand und behutsamem Einsatz der Mittel das Poetische entlockt.

So auch diesmal. Ihre Bilder sind im Hier und Jetzt, ohne jede metaphysische Überfrachtung. Es rückt sich kein Konzept vor die Figuren und den Willen, diese zu zeigen. Und doch offenbart sich viel mehr: eine Parabel über die Welt und die Arten auf jene zuzugehen bzw. in ihr zu existieren.

Denn die drei in dieser kleinen Gemeinschaft miteinander Verbundenen sind jeder auf seine Weise ein Außenseiter der Gesellschaft. Tokue mit ihrem zurückhaltenden aber weisen Blick wird zur mütterlichen Lehrerin für die beiden anderen. Mit ihr öffnet Kawase aber auch einen konkret-historischen Bezugsraum, der dunkel ist wie das An – Tokue hat ein Geheimnis, das den Imbiss gefährdet: Lepra. Erst 1996 wurde in Japan ein Gesetz zur Zwangsquarantäne von "Aussätzigen" aufgehoben.

Notiz ohne Sentiment

Auch wenn manches von den Geschichten Sentaros und Wakanas daneben mehr in Andeutungen stecken bleibt, entsteht daraus eine stimmige, runde Erzählung. Kein Epos, sondern eine Notiz. Das Unterfangen gelingt ohne Sentiment. Traurig, spannend, heiter, schön. (Michael Wurmitzer, 8.1.2016)