Am Sonntag, dem Tag nach der Hinrichtung des schiitischen Ayatollah Nimr Baqir al-Nimr in Saudi-Arabien, kehrte ein Funken Vernunft zurück: Der iranische Präsident Hassan Rohani durfte die Erstürmung und Brandschatzung der saudi-arabischen Botschaft in Teheran verurteilen – die die iranischen Behörden in der Nacht zuvor nicht verhindert hatten. Erleichtert wurde der iranischen Regierung, die unter dem Dauerdruck der ideologischen Hardliner steht, die pragmatische Wende durch die internationale Gemeinschaft: Die USA, die EU und einzelne Länder und Politiker verbargen in ihren Reaktionen nicht ihre Bestürzung über die Nonchalance, mit der das wahhabitische Königreich Öl ins Feuer des Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten in der Region gießt.
Die Frage am Tag danach war: Warum machen die Saudis das? Dass der Ayatollah lebend eine größere Gefahr war als tot, kann auch in Riad niemand ernsthaft glauben. Im Gegenteil – in Expertenäußerungen wird der Aspekt betont, den auch die iranische Führung formulierte, diese allerdings im Sinne einer drohenden Prophezeiung: Wenn die neue saudische Führung – die vom Königssohn Mohammed bin Salman dominiert wird, der in einem Bericht des deutschen Bundesnachrichtenamts kürzlich als "impulsiv" bezeichnet wurde – so weitermacht, dann gefährdet sie die Stabilität ihres eigenen Regimes.
Diesem würden weltweit wohl nur wenige nachweinen – aber die Destabilisierung eines weiteren arabischen Landes kann niemand wollen. Es ist jedoch sicher, dass die Ablehnung, die MbS, wie er abgekürzt genannt wird, sogar in der eigenen großen Familie hervorruft, noch wachsen wird. Es sind genau solche Aktionen wie diese, über die auch die Verbündeten Riads, inklusive Araber, den Kopf schütteln: nicht durchdacht, die möglichen Konsequenzen außer Acht gelassen, keine Exit-Strategie. Wie etwa die saudische Intervention im Jemen, ein Krieg, der nicht zu gewinnen ist, jedenfalls nicht im Sinne einer Befriedung des Landes.
Der letzte Aufreger in Saudi-Arabien war vor wenigen Tagen die Verkündigung des Budgetlochs und des neuen Sparkurses: In den sozialen Medien kochte der Zorn über, dass sich das Königreich gleichzeitig weiter teure Engagements im Ausland leistet. Vielleicht war ja die Hoffnung, dass der Hinrichtungs-Paukenschlag, bei dem die größte Anzahl von Personen seit 1980 exekutiert wurde, das für ein reiches Ölland peinliche Thema Geld einfach überlagert.
Dass neben 43 wegen Terrorismus verurteilten sunnitischen Extremisten auch noch vier Schiiten, darunter der Ayatollah, getötet wurden, mag hingegen als Beruhigungspille für den radikalen Sektor im Land gedacht gewesen sein. Es gibt sehr wohl Kreise im Königreich, die die Führung wegen ihrer Antiradikalismuskampagnen und ihrer Versuche, sich vom Jihadismus abzugrenzen, kritisieren.
Und dafür nimmt man einen Totalabsturz des Verhältnisses mit Teheran in Kauf? Naturgemäß bleiben die Spekulationen nicht aus, dass das sogar die eigentliche Intention war: Genügend Auftrieb für die Hardliner in Teheran, eine unverhältnismäßige iranische Reaktion könnten dafür sorgen, dass die vorsichtige Normalisierung mit Teheran – etwa durch den vor der Umsetzung stehenden Atomdeal – ganz schnell ihr Ende findet. Auch als Teilhaber im diplomatischen Prozess für Syrien wäre Teheran erledigt. (Gudrun Harrer, 3.1.2016)