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Meerquerung bei Winterwetter: Auch am 1. Jänner kamen Bootsflüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos an.

foto: reuters/ giorgos moutafis

Kurz vor Jahreswechsel, am 31. Dezember, gab es erste Hinweise, dass nach dem blamablen Scheitern der EU-Asylwerberquoten auch der jetzt im Mittelpunkt stehende Plan zur Linderung der flüchtlingspolitischen Krise floppen könnte: Mit scharfen Worten kritisierte der griechische Vize-Minister für Migration, Ioannis Mouzalas, die türkischen Behörden.

Diese würden den Zustrom von Flüchtlingen nicht eindämmen, sagte der politisch unabhängige Politiker. Trotz Windstärke sechs bis sieben auf See zwischen der Türkei und Griechenland gebe es auf den griechischen Inseln "ein Bombardement von 4000 Ankünften pro Tag". Das sei "nicht normal".

Kriegerische Diktion

Abgesehen von der offen kriegerischen, und damit höchst bedenklichen Diktion ("Bombardement"), um das An-Land-Gehen von Menschen aus oft seeuntüchtigen Booten zu bezeichnen: Geht es mit den zahlreichen Ankünften Asylsuchender in Griechenland trotz Winterwetters in den kommenden Tagen und Wochen so weiter, so haben sich jene europäischen Politiker verrechnet, die meinten, die türkischen Behörden würden für die EU das Flüchtlingsfernhaltegeschäft übernehmen.

In diesem Fall würde die massive Fluchtbewegung in die EU also ungebrochen weitergehen: Eine Fluchtbewegung, die – so umfassend sie auch ist – in Europa bewältigbar wäre. Wenn die EU in dieser Frage nicht so gespalten wäre, wie derzeit mantraartig beklagt wird.

Wenig verwunderliche Uneinigkeit

Zusammenstehen tut die EU bei Thema Flüchtlinge wahrlich nicht, und das ist schlimm. Aber im Grunde ist es wenig verwunderlich. Die Einzelstaaten sind der Union mit der –wie sich nun herausstellt – kontraproduktiven Vorgabe beigetreten, dass sie in politischen Kernbereichen ihre Souveränität zum Großteil behalten können. Etwa im Asyl- und Fremdenrechtsbereich.

Versuche, näher zusammenzurücken, etwa mittels Richtlinien sowie durch die Gründung des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (Easo) stehen erst am Beginn. Und das EU-weite Dublinsystem, laut dem immer jenes Land für das Asylverfahrens eines Flüchtlings zuständig ist, in dem dieser die Union betreten hat, hat weit mehr Probleme verursacht als es ursprünglich Verbesserungen brachte.

Unsolidarisches Dublinsystem

Tatsächlich hat das Dublinsystem entscheidend zu dem unsolidarischen Klima in Flüchtlingsfragen in der EU beigetragen. Weil sich dadurch sämtliche EU-Binnenstaatenvertreter mit ihrer Ablehnung von Hilfe an Grenzstaaten im Recht sahen. Jahrelang beschwerten sich Italiener und Griechen, weil sie mit den Scharen ankommender Bootsflüchtlinge (und mit deren Rettung) von den anderen EU-Ländern alleingelassen wurden. Die anderen reagierten nicht – und hatten dazu laut Dublin-Verordnung auch keine Veranlassung.

Nun beschweren sich die Mitgliedsstaaten, die auf der Westbalkan-Fluchtroute liegen, unter ihnen auch Österreich – und alle anderen halten sich bedeckt. Laut Dublin wäre im Grunde ja immer noch Griechenland für alle ankommenden Flüchtlinge zuständig, wo man sich inzwischen offenbar bereits "bombardiert" wähnt.

Anachronistische Kompetenzen

Somit kann man die fehlende EU-Solidarität in Flüchtlingsfragen als Folge eines gescheiterten Aufteilungssystems bezeichnen, auf Grundlage eines Anachronismus, laut dem in der Union im Asyl- und Fremdenrechtsbereich starke einzelstaatliche Kompetenzen zugelassen sind.

Im Umkehrschluss wäre es ein wahrhaft historischer Schritt, würden es die EU-Staaten schaffen, sich hier in Richtung wirklicher Gemeinschaft zu verändern. In eine Gemeinschaft, die im Akutfall – einer Fluchtbewegung wie der jetzigen – vereinbarte, menschenrechtskonforme Antworten hat: gleiche Flüchtlingsbetreuungsstandards allenthaben und, darauf fußend, subsidiäre Aufteilungsprinzipien, die auch den Asylsuchenden größtmöglich die Wahl lassen, sowie die Bereitschaft zu breit angelegtem Ressetlement, also legaler Einwanderungsperspektiven für anerkannte Flüchtlinge.

Asylthema als Rutschbahn

Eine solche Gemeinschaft wäre imstande, einzelstaatliche, rein protektionistische Reaktionen auf Fluchtbewegungen zu verhindern. Und könnte damit besser die Bestrebungen nationalistischer, in der Regel rechtslastiger Parteien konterkarieren, das hoch emotionalisierte Asylthema als komfortable Rutschbahn in politische Machtpositionen zu missbrauchen, von denen aus sie die Gesellschaft ihren Vorstellungen nach autoritär gestalten können.

Diese Rutschbahn wird den Rechten derzeit nämlich geradezu gelegt – und hier rennt die Zeit. Ernsthafte Verhandlungen für ein gemeinsames, solidarisches Asylsystem der EU können auch deshalb nicht warten, weil ohne sie ein Staat nach dem anderen den Orbàns, Kaczynkis, Le Pens und Straches anheimzufallen droht. (Irene Brickner, 2.1.2016)