"Verspricht einer dir eine simple Lösung aus dieser Verstrickung kannst du gewiss sein, es handelt sich entweder um einen Dummkopf, um einen Schuft oder eine Vermischung von beidem": Peter Rosei.

Foto: Heribert Corn

Soll ich von meiner Zeit im Hotel Victoria erzählen, als ich unweit des Boulevard Saint-Denis unter Pakistanis und Maghreb-Leuten lebte und von meinem Fenster geradewegs in die riesigen Mülltonnen des nahegelegenen Marktes hineinschauen konnte? Im Haus nebenan war eine Moschee, und die Leute knieten während des Freitagsgebetes in dem engen Hinterhof auf Kartonstücken, Resten von Kühlschrankverpackungen und dergleichen." Das schrieb ich in den frühen Achtzigerjahren, Rue de Bucy, in der Nähe des Ostbahnhofs: Wer weiß, wie es heute dort aussieht? Vermutlich haben Developer die Sache in die Hand genommen, und alles ist längst saniert?

War es davor oder danach, dass ich öfter nach Belleville hinaufkam, damals eine heruntergekommene Gegend, ich weiß es nicht mehr. Früher vom Kleinbürgertum bewohnt, hart am Rand zur Armut – Edith Piaf, der Spatz von Paris, kam aus Ménilmontant. Jedenfalls, die Abbruchhäuser da waren fest in der Hand von Schwarzafrikanern. Damals kam es mir märchenhaft vor, sah ich die schwarzen Frauen, wunderschön anzuschauen in ihren bunten Gewändern, wenn sie mit Kübeln und anderem Geschirr am öffentlichen Hydranten Wasser holten – in den Häusern, wo sie wohnten, gab es keines.

Die romantische Periode ging rasch zu Ende, als die Fahrten mit der Vorortelinie RER vom und zum Flughafen Charles de Gaulle immer seltsamer, ja, fast schon unheimlich wurden, vor allem nachts oder zeitig in der Früh: Ich war oft, mitsamt meinem Koffer, der einzige nichtfarbige Fahrgast. Nicht die rassische Tatsache war das Verstörende, vielmehr war es der Umstand, dass ich als isoliertes Exemplar einer Klasse mich einer Gruppe von Menschen gegenübersah, die ganz offensichtlich einer anderen Klasse angehörten. Derlei Begegnungen hatte ich bisher nur in Ländern der sogenannten Dritten Welt erlebt.

Dort aber war ich vorbereitet gewesen und hatte allerhand Strategien schon entwickelt, wie ich – nun, wie soll ich schon sagen – wie ich, für mich und die anderen, das Schroffe, ja Feindselige des Fremdseins ein wenig abschwächen, camouflieren oder, bestenfalls, für den Moment aufheben konnte: durch ein Geschäft, ein Gespräch, eine Frage.

Über meine Übersetzer und andere Intellektuelle, die ich im Lauf der Zeit kennenlernte, wurde ich mit der Tatsache bekannt, dass die meisten von ihnen beruflich am Rive gauche zu tun hatten, im Verlagsviertel da, dass sie aber beinah ausnahmslos weit draußen in der Vorstadt, in den Vorstädten wohnten, oft eine Stunde oder mehr mit dem Zug zu fahren hatten, um ins Zentrum zu gelangen. Meine Bekannten nahmen das achselzuckend hin, einfach als das Gewöhnliche: "Ja, wenn du keine Wohnung erbst oder geerbt hast, dann wohnst du eben, unsereiner zumindest ..."

Ich zitiere meine Erinnerungen hier bloß zur Untermauerung einer These: Die Leute aus den farbigen Vorstädten von Paris oder sonst wo, aus den sogenannten Problembezirken, was bekommen sie schon von unserer Zivilisation mit, von ihren Versprechungen? Die meisten sind ohne Arbeit und haben auch keine Ausbildung, mit deren Hilfe sie ihre Lage verändern könnten. Ihre Lebenswelt ist desolat und hoffnungslos – und das wissen sie. Was ja auffällt, ist der Umstand, dass die Terroristen in ihrer Mehrzahl nicht aus Syrien oder dem Irak stammen, dass es vielmehr Leute mit europäischem Pass und europäischer Herkunft sind, die bloß einen Umweg über Syrien oder den Irak gemacht haben.

Wer sollte die Anschläge sonst auch ausführen? (Ich meine, die Täter müssen unsere Lebenswelt hier ja kennen, mit ihr vertraut sein – sonst könnten sie sich nicht unauffällig in ihr bewegen.) Ich behaupte also, dass die schlimme Lage, in der wir uns befinden, die plötzlich über uns hereingebrochen ist – wie uns ganz fälschlicherweise vorkommt -, dass dies keine wie immer geartete Folge außenpolitischer Verwicklung ist, sondern grundsätzlich das Innere unserer Kultur und Gesellschaft betrifft und von dort ausgeht.

PS: Es wundert mich nicht, zu hören, dass die junge Hasna, jene Terroristin, die bei der Erstürmung dieser Wohnung in Saint-Denis umkam, eine Kalaschnikow in der Hand, dass sie, wie ein Bekannter von ihr sich lachend ausdrückte, "nie eine Zeile des Koran gelesen hat."

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Wenn nun von europäischen Werten die Rede ist – und es ist gerade jetzt sehr viel die Rede davon: Welche Werte sollen denn vermittelt werden? Unsere Wertegemeinschaft ist im Wesentlichen eine Besitzgemeinschaft. Was wir bei uns als Wert definieren, ist doch für gewöhnlich bloß die unhinterfragte Selbstgewissheit von Besitzenden, von Leuten, die über etwas verfügen: über Arbeit zum Beispiel, über Versicherungen und Pensionsansprüche, aber auch etwa über soziales Prestige, über das Gefühl, zu funktionieren, okay zu sein.

Man verstehe mich nicht falsch: Der Wert unserer demokratischen Spielregeln, der Rechtsstaat, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. In einem Spiel, das geregelt ist und sein will, geht es aber stets um etwas. Und gerade in dieser Hinsicht können die Leute, von denen wir hier reden, kaum mitspielen.

Bei den meisten Spielen in unserer Zivilisation geht es um Geld oder um etwas, das sich in Geld ausmünzen lässt. Es steht daher zu befürchten, dass sich der Hang, Geld als einzige Quelle des Glücks anzusehen, im Gefolge unserer liberalen und jedenfalls laizistischen Anschauungen ebenfalls global ausbreiten wird. Das wird die Migrationsströme nicht eben austrocknen.

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Wenn nun etwa Herr Hollande von Krieg redet, irrt er sich sehr. Zwar mag man, was sich in Syrien, im Irak abspielt, als Krieg bezeichnen – wenn auch nur dem Umfang nach und jedenfalls nicht in völkerrechtlichem Sinn. Bei den Vorfällen von Paris handelt es sich nicht um Krieg – es handelt sich um Bürgerkrieg. (In der globalisierten Welt wird der Bürgerkrieg die gewöhnliche Form des Krieges sein.) Es ist beschämend, aber auch aufschlussreich, dass Herr Hollande, ein Sozialdemokrat, die soziale Dimension der Problematik nicht sehen und erkennen will, stattdessen den nationalen Schulterschluss sucht.

Wir kennen den Vorgang aus den USA: Statt die sozialen Ursachen einer gesellschaftlichen Problemlage anzuerkennen und also anzupacken, wird die Polizei, werden die Geheimdienste aufgerüstet. (Failed States, ihr Herkommen, ihre Ableitung aus kolonialen Verhältnissen und die Interaktion mit den jeweiligen Mutterländern: ein Thema, das hier hereinspielt und einer eigenen Untersuchung bedürfte.)

Man verstehe mich nicht falsch: Für die Verbrechen der Terroristen gibt es keine Entschuldigung. Klar: Diese Leute müssen bekämpft werden. Über die Ursachen sollte man aber doch auch nachdenken und nachdenken dürfen. Der herbeizitierte Islam, die religiöse Aura als solche ist wohl nur Fahrzeug für etwas, was sein Momentum in sozialer Frustration und Enttäuschung hat.

Diejenigen, die glauben, nichts gewinnen, ja auch nichts mehr verlieren zu können – sie melden sich auf ihre Weise. Wehren sie sich? Protestieren sie? Machen sie in schrecklichster Weise auf sich aufmerksam?

Dass sie das im Namen einer Sache tun, die größer ist als sie selbst, gibt ihrem Handeln Dimension: eine Dimension, die ihr Elend in einen größeren und also erhebenden Rahmen stellt, ihnen das Gefühl letztgültiger Überlegenheit über den Feind gibt. (Lese ich etwa in der Zeitung die Bemerkung, die Terroristen glaubten vielleicht tatsächlich, sie würden im Jenseits von Jungfrauen erwartet, nun, es mag solche Leute geben. Auf die große Zahl wird es gewiss nicht zutreffen. Das Hybride am "Islamischen Staat", an Al-Kaida etc. springt doch sofort ins Auge: Ohne die Mittel moderner Kommunikation, modernster Waffen, den Zugang zum Internet und einen übernationalen Zahlungsverkehr könnten die Terroristen dichtmachen. Über ebendiese Mittel werden wir sie auch besiegen.)

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Mein Mitleid gehört den Opfern, ihren Angehörigen und ihren Freunden. Ich empfinde aber auch Mitleid für die Terroristen. Wie verzweifelt, verrückt und verblendet muss einer sein, sich auf so etwas einzulassen, so etwas zu tun! Gewiss, die Terroristen würden wohl auf mein Mitleid pfeifen, sie hielten mich für sentimental, für einen dieser Schwadroneure von der anderen Seite, für einen dieser dekadenten Westler. Wahrscheinlich hassen sie uns alle.

Und wenn es tausendmal so wäre oder so ist: Was ich vor mir habe, ist der verzweifelte, der – von was auch immer – in die Enge getriebene Mensch: Obschon er tief drinnen weiß oder wissen muss, dass er verloren ist und niemals gewinnen kann, geht er aufs Ganze. Er macht sich zum Unmenschen, in unseren Augen, um, in seinen Augen, seine Menschlichkeit zu bewahren.

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Wer im Übrigen annimmt, durch die Rückführung von Migranten in ihre Herkunftsländer die Probleme lösen zu können, irrt: Die Rückgeführten werden sich bestimmt nicht vor ihrer Hütte auf einen Stein setzen und sagen: "Es war halt nix. Leben wir eben so weiter wie vorher." Im Gegenteil, diese Leute werden Katalysatoren der Unzufriedenheit sein, Künder auch vom besseren Leben, in das sie ja immerhin schon hineingerochen haben.

Im Grunde genommen ist es das unhaltbare Versprechen unserer Zivilisation, eine sehr große Menge Glück für sehr viele herstellen und womöglich an alle verteilen zu können. Die Glücksversprechung unserer Zivilisation ist, weil unendlich, von vornherein illusionär. Dass die ungleiche Verteilung der Güter die Lage noch zuspitzt und entscheidend verschärft, macht die von vornherein wacklige ideelle Konstruktion nur noch wackliger und unhaltbarer – es ist von Haus aus eine Fehlkonstruktion.

Peter Sloterdijk etwa bringt das von Otto Neurath geprägte Bild in aktualisierter Form: Vergleicht Neurath unsere Zivilisation einem Schiff, das wir auf hoher See jeweils umbauen und den Bedürfnissen und Möglichkeiten anpassen müssen, stellt Sloterdijk uns das wenig anheimelnde, im Grund schreckenerregende Bild eines Flugzeuges vor, bei dem man nicht bedacht hat, dass es ja einmal landen müsse. Beide Entwürfe lassen uns zumindest die Hoffnung, überlegene Technik könne oder könnte unsere Probleme lösen. Was auffällt: Der Hoffnungsakzent, bei Sloterdijk fällt er, siebzig Jahre nach Neurath, doch deutlich schwächer aus.

(Exkurs: Zählen wir Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung auch stets an erster Stelle auf, rückt immer mehr eine bestimmte Art von Arbeitslosigkeit ins Blickfeld: Unsere technische Zivilisation stellt ganz bestimmte Anforderung an die zu ihrer Benützung und Bedienung nötigen Menschen. Wir, die wir als Menschen doch die Nutznießer der von uns geschaffenen Technik sein sollten, vermeintlich auch sind, werden nun selbst zum Material, das in Hinsicht auf ebendie Technik – und nicht in Hinsicht auf unsere eigenen Bedürfnisse – aussortiert wird, ja, wie die zynische Version lautet, aussortiert werden muss.)

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Über die Globalisierung, insbesondere über die Medien dringen unsere liberalen und laizistischen Vorstellungen als vermeintliche Freiheitsbringer immer weiter vor. Und es ist ja auch eine Befreiung: von Aberglauben und Unwissenheit, von Hierarchien, die sich im Namen überkommener Vorstellungen an der Macht halten.

Allerdings, wird der zweite Teil des liberalen Befreiungsversprechens nicht mitgeliefert – das sind nun einmal materielle Wohlfahrt, Gesundheit, staatlich verbriefte Sicherheit und eine positive Lebensaussicht -, entstehen naturgemäß Unruhe, Unmut, Zorn und Hass, die gerade dadurch noch befeuert und verstärkt werden, dass die traditionellen Sedative nun wirkungslos geworden sind.

Verspricht einer dir eine simple Lösung aus all dieser Verstrickung, kannst du gewiss sein, es handelt sich entweder um einen Dummkopf, um einen Schuft oder um eine Vermischung von beidem. Was wir neben Witz, Mut und Energie vor allem brauchen, ist Geduld, einen langen Atem.

Sloterdijk postuliert in seinem gleichnamigen Buch: Du musst dein Leben ändern! Ich fürchte, das wird, so wichtig diese Forderung auch ist, nicht genügen. Wir müssen unsere Zivilisation neu erfinden, auf neue Grundlagen stellen. Solidarität, wie sie etwa Basis des Pariser Umweltabkommens ist, ist das eine. Jedenfalls muss eine Deckelung unserer Erwartungen her.

Was ein gutes Leben ist – es wird im Rahmen ethischer Erwägungen neu zu definieren sein oder, was weit wahrscheinlicher ist, es wird sich im Verlauf pragmatischer Schritte, die nach und nach aus purer Notwendigkeit zu setzen sein werden, von selbst bestimmen. Das Leben selbst ist unser bester Lehrmeister: zum Teufel mit allen Schwerhörigen! (Peter Rosei, Album, 6.1.2016)