Ohnmächtig dem Bankrott der Zivilisation zusehen: Romain Rolland.

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Je suis en route, bei frühlingshaften Temperaturen über den Pont du Carrousel und hinein in ein neues Jahr. Weniger Argwohn als vor einem Monat, jeder zu forsche Blick machte einen da verdächtig. Rechts die Glaspyramiden vor dem Louvre, Sicherheitskräfte, Maschinenpistolen, linker Hand ein paar Stufen hinab in den Jardin des Tuileries.

Von hier ist es nicht weit zum Théâtre Marigny, in dem Stefan Zweig 1940 bei seinem letzten Parisaufenthalt einen Vortrag hält, einige Wochen später patrouillieren deutsche Soldaten durch die Stadt: "Totale Depression, Frankreich verloren, für Jahrhunderte zertrümmert", Zweig verzweifelt.

36 Jahre zuvor war er erstmals an die Seine gekommen: "Nirgends empfand man mit aufgeweckten Sinnen sein Jungsein so identisch mit der Atmosphäre wie in dieser Stadt, die sich jedem gibt und die doch keiner ganz ergründet." Im neunten Arrondissement hatte er eine Bleibe gefunden, in der Rue Victor Massé, benannt nach einem bretonischen Komponisten, gestorben in Paris, sein Grab befindet sich auf dem Cimetière de Montmartre. Wichtiger aber war für Zweig bei der Quartiersuche wohl die Nähe zu Verlaine, der einst im selben Stadtteil gelebt hatte. Oft trieb es ihn daher auch ins Café Vachette, das es heute nicht mehr gibt, Verlaine und Rimbaud hatten dort gezecht, Zweig trank auf sie.

Nach einem Jahr verlässt er Paris, weiter nach Belgien, England und Spanien. 1905 erscheint sein Buch über Paul Verlaine, zwei Jahre später Rimbaud: Leben und Dichtung. 1911 reist er erneut nach Paris, es kommt zur ersten Begegnung mit Romain Rolland, eine Freundschaft entsteht, Niederschlag findet sie unter anderem in einem Briefwechsel, geführt vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, die intellektuelle Auseinandersetzung zweier Pazifisten. Freilich, die beiden verbindet mehr als die Abscheu vor martialischer Propaganda und Kriegseuphorie, schon 1910 lässt der in Burgund geborene Rolland seinen um fünfzehn Jahre jüngeren Kollegen wissen: "Sie sind ein Europäer. Ich bin es auch, aus vollem Herzen." Im Sommer 1914 befindet sich Romain Rolland in der Schweiz, am Genfer See, er ist 48 Jahre alt, hat seine Professur an der Sorbonne aufgegeben und will sich ganz dem Schreiben widmen. Der große Erfolg seines Romanzyklus Jean-Christophe bildet das finanzielle Rückgrat, er erwägt die Gründung einer internationalen Zeitschrift, für die er Schriftsteller aus Europa gewinnen möchte, mit Rilke und H. G. Wells steht er diesbezüglich in Kontakt. Der Ausbruch des Kriegs macht alle Pläne zunichte.

"Ich bin am Boden. Ich möchte tot sein. Es ist furchtbar, inmitten dieser wahnsinnigen Menschheit zu leben und ohnmächtig dem Bankrott der Zivilisation beizuwohnen", notiert er Anfang August 1914 in sein Tagebuch. Er bleibt in der Schweiz. Erschüttert über die Rhetorik, deren sich Intellektuelle in Europa bedienen, reagiert er mit öffentlichen Aufrufen und Ermahnungen auf die Kriegsereignisse und macht sich damit im Land seiner Herkunft zur Unperson: "Ich fühle den Hass, der in Frankreich gegen mich aufsteigt. Dennoch habe ich nichts anderes getan, als menschliche Worte gesprochen und ohne viel Aufhebens in einer maßvollen Haltung ohne Hass ausgeharrt", ein weiterer Eintrag aus seinem Tagebuch. An anderer Stelle: "Hasspropaganda. Man weiß nicht, was stärker ist, die Dummheit oder die Gemeinheit!"

Als bekannt wird, dass Rolland mit dem Nobelpreis für Literatur 1915 ausgezeichnet werde, nehmen die Anfeindungen noch zu. Die französische Presse zeigt sich bestürzt, dass der Preis an eine "bösartige Person" vergeben werde, an einen "Antifranzosen", der seit Beginn des Krieges nicht aufgehört habe, "Schlangengift über unser Land zu versprühen." Einen Feigling heißt man ihn, einen Volksverräter.

Sein Ziel sei nichts als ein einziger Versuch gewesen, einen neuen Krieg zu verhindern, hält Zweig 1922 in seiner Monografie über Rolland fest. Anders als sein Korrespondenzpartner hatte er sich bei Kriegsausbruch noch in Vorsicht und Zurückhaltung geübt. Erst im März 1918 schreibt Zweig an den Freund: "Ich will meine Hände nicht mehr in diesem scheußlichem Gemisch aus Tinte, Blut und Geld besudeln, das sich Politik nennt."

Vor mir der Obelisk von Luxor, die Place de la Concorde, ein Satz von Rolland kommt mir in den Sinn: "Der Westen denkt nur an sein eigenes Leid." Am 29. Jänner jährt sich der Geburtstag von Rolland zum 150. Mal. Ein Boulevard wurde nach ihm benannt, abseits des Zentrums, im 14. Arrondissement. Je suis en route. (Christoph W. Bauer, Album, 2.1.2016)