Bild nicht mehr verfügbar.

Vor allem Mangelernährung und verschmutztes Trinkwasser sind die Ursachen für die Ausbreitung von Noma.

Foto: Jerome Delay/AP/dapd

Harald Kubiena leitet die Noma-Hilfe in Österreich und operiert jährlich dutzende Kinder in Westafrika.

Foto: Barbara Nidetzky

Harald Kubiena ringt um Worte, kämpft um Formulierungen und muss doch immer wieder zugeben, dass ihm der richtige Ausdruck fehlt. Doch nicht, weil sich der plastische Chirurg nicht auszudrücken weiß, sondern weil es für ihn unbeschreibliche Gefühle und Erlebnisse sind, die er zu beschreiben versucht.

Der 44-jährige Österreicher leitet die Noma-Hilfe, die vor allem in Niger Opfer der Infektionskrankheit behandelt. "Wie von Hunden zerfleischt" – so beschreibt Kubiena die Gesichter der Kinder, die Noma überlebt haben. Sie gehören zu den nur etwa zehn Prozent der Erkrankten, denen die Krankheit nicht ihr Leben nimmt. Jährlich infizieren sich laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation 80.000 bis 90.000 Kinder in Westafrika, 10.000 überleben schwer gezeichnet.

Vor allem nach der Entwöhnung von der Muttermilch, wenn die Zahntaschen der Kleinkinder aufgrund der neuen Milchzähne offen sind, nisten sich die Bakterien durch verschmutztes Wasser und Mangelernährung ein. Dabei greifen sie zuerst das Gewebe im Mund an, eine geschwollene Backe ist die Folge. Werden zu diesem Zeitpunkt Antibiotika verabreicht, kann die Krankheit gestoppt werden. Ansonsten breiten sich die Keime weiter aus: fallen tiefergelegenes Gewebe im Mund an, attackieren im späteren Verlauf auch die Knochen und rufen eine Kiefersperre hervor. Letztgenannte macht es den Kindern fast unmöglich, Nahrung zu sich zu nehmen, und lässt Erbrechen zu einer lebensbedrohlichen Gefahr werden.

Hilflose Eltern

Als "Strafe Gottes" oder "böse Geister", die in die Kinder einfahren, werden die schweren Entstellungen im Gesicht der Kinder angesehen. Viele Eltern sind hilflos, wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Sie verstecken oft die Kleinen in den gedrungenen Lehmhütten ihres Dorfes. Eine medizinische Infrastruktur gibt es in dem westafrikanischen Land nicht wirklich, das jährlich den letzten Platz im Index der humanitären Entwicklung der Vereinten Nationen einnimmt.

Zwar hilft die traditionelle Zahnhygiene nur wenig, dennoch reisen die Mitarbeiter der Hilfsaktion Noma in die Dörfer, um sie den Menschen näherzubringen. Umringt von neugierigen Dorfbewohnern aller Altersklassen, entrollen sie schließlich Plakate, die auf Bildern den Krankheitsverlauf erklären.

Dann holt ein Mitarbeiter den Holzspan heraus und zeigt den Menschen, wie sie damit ihre Zahnzwischenräume von Unreinheiten befreien. Die afrikanische Version der Zahnpasta, eine Mischung aus Holzkohle und Salz, wird dann im Mund verteilt – und mit Wasser ausgespült. Dabei kommen die Kinder meistens in Kontakt mit den gefährlichen Bakterien. Deshalb ist der Kampf gegen Unterernährung und schmutziges Wasser gleichzeitig der Kampf gegen die Krankheit.

Anhaftende Diskriminierung

Das ist auch einer der Leitsätze der 72-jährigen Ute Winkler-Stumpf, die das Herz der "Hilfsaktion Noma" ist. Die ehemalige Lehrerin aus Deutschland sammelte vor mittlerweile mehr als zwanzig Jahren gemeinsam mit ihren Schülerinnen für einen kleinen Buben, der im Niger an Noma erkrankt war. Sie wollten ihm eine Operation in Deutschland ermöglichen. Es gelang. Binia war mit zwei Jahren mit den gefährlichen Bakterien infiziert worden, er war einer der wenigen Überlebenden.

Mit acht Jahren erst wurde seine jahrelange Kiefersperre in Deutschland gelöst. Er bekam sein Gesicht zurück. Und neue Eltern. Denn als Winkler-Stumpf den Buben aus dem Niger wieder in Afrika besuchte, war klar, dass er nicht mehr in die Dorfgemeinschaft integriert werden konnte. Zu sehr war er bereits ausgestoßen worden. Sie holte ihn zurück nach Deutschland – als er 17 Jahre alt war adoptierte sie ihn. Mittlerweile ist Binia 28 Jahre alt, Industriekaufmann und Modedesigner. Mit seinem Selbstbewusstsein hat er laut Winkler-Stumpf aber immer noch zu kämpfen: "So eine Diskriminierung haftet einem Menschen an", sagt die Gründerin der Hilfsaktion.

Kinder ohne Angst

Wie Binia wird nun durch das Engagement der deutschen und österreichischen Noma-Hilfe dutzenden Kindern ihr Gesicht zurückgegeben. "Man darf sich aber nicht vorstellen, dass man die schrecklichen Narben nicht mehr sieht", stellt Kubiena klar, der einer der plastischen Chirurgen ist, die mehrmals im Jahr in den Niger fliegen, um ihre Expertise und ihre Hände zur Verfügung zu stellen.

Dabei kann sich der krisenerprobte Chirurg noch genau an seinen ersten Einsatz erinnern. Als er unter Personenschutz über die staubigen Straßen der Hauptstadt Niamey in das zentrale Kinderhaus gefahren wurde. "Überall sah man Straßenhunde und Kinder, die wie Straßenhunde lebten", so der Arzt über die bedrückende Stimmung bei der Ankunft. Umso mehr überrascht hatte es ihn, als er seine Patienten kennenlernte.

In weißen Hemden, auf denen ihre Patientennummer aufgepinnt war, erwarteten ihn die Kinder im Alter von vier bis 16 Jahren. "Mir fällt es schwer zu beschreiben, was diese Kinder, die ihre entstellten Gesichter mit solch einer Selbstverständlichkeit vor sich hertrugen, ausgestrahlt haben. Aber ich glaube, dass es einfach dieses Bereitsein in ihren Augen war, das mich so fasziniert hat", so Kubiena. "Ja, diese Kinder hatten keine Angst und waren so bereit, sich dieser komplizierten Operation zu unterziehen."

Weitermachen

Kompliziert ist auch das Wort, das der Wiener Arzt verwendet, um seine Gedanken zu beschreiben, als er von einem seiner ersten Eingriffe erzählt. Dem Eingriff, nach dem der kleine Patient schließlich nicht mehr atmete. Kubiena hinterfragte sich, zweifelte. Und operierte weiter. Es waren die Erfolgsgeschichten, die den Chirurgen weitermachen ließen.

Erfolgsgeschichten wie die der 16-jährigen Barira, bei der die Bakterien bereits Nase, Oberkiefer und Wangen zerstört hatten. Die junge Frau war nach einer Vergewaltigung bereits selbst Mutter und schwer entstellt. Nach mehreren Operationen konnte ihr Kubiena im Februar dieses Jahres schließlich auf der rekonstruierten Seite ihres Gesichtes die Schmucknarben, die für einige Stämme Afrikas typisch sind, einritzen. "Das war wie Blutsbruderschaft, ein unbeschreibliches Gefühl", erinnert sich der Arzt. Barira könnte nun selbst bei der Hilfsaktion, die vor allem einheimische Mitarbeiter in Kliniken und Aufklärungsprogrammen beschäftigt, tätig werden.

Dass die Arbeit ihrer NGO einmal so umfassend wird, hätte sich Winkler-Stumpf nie gedacht. Ein "Schneeballeffekt" sei es gewesen. Nun sei die Hilfsaktion Noma bereits Partner der Weltgesundheitsorganisation, arbeite an einem eigenen Lehrbuch und folgte dem Hilferuf der Regierung in Guinea-Bissau, wo sie seit einigen Jahren zusätzlich zum Engagement im Niger aktiv ist. Das erklärte Ziel der Deutschen: dass kein Kind sein Gesicht verlieren oder verstoßen werden muss. "Wenn wir’s ned machen, dann macht’s keiner", so Winkler-Stumpf. Und es klingt wie eine Motivation für sich selbst: "Also fangen wir an." (Bianca Blei, 2.1.2016)