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Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City an den Folgen einer Krebserkrankung.

Foto: AP Photo/BBC, Adam Scourfield

Oliver Sacks, "Dankbarkeit". Aus dem Englischen von Hainer Kober. 8,30 € / 80 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2015

Cover: Rowohlt

Es war einer der berührendsten Essays des Jahres 2015, der am 19. Februar in der "New York Times" erschien. Sein Titel lautete schlicht "My Own Life", stammte von Oliver Sacks und handelte von einem existenziellen Thema: Der große Neurologe, Psychiater und Geschichtenerzähler hatte kurz zuvor erfahren, dass er nur mehr weniger Monate zu leben hat: Ein seltener Tumor, der sein Auge befallen hatte, war metastasiert, was noch seltener vorkommt.

In dem Text haderte Sacks aber nicht lange mit seinem Schicksal, sondern zog mit großer Gelassenheit Bilanz. Ganz am Ende hieß es: "Ich kann nicht behaupten, ohne Furcht zu sein. Doch mein vorherrschendes Gefühl ist das der Dankbarkeit. Ich habe geliebt und wurde geliebt, ich habe viel bekommen und ein wenig zurückgegeben; ich habe gelesen und ferne Länder bereist und gedacht und geschrieben. (...) Vor allem aber war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und schon das allein war ein wunderbares Privileg und Abenteuer."

Dankbarkeit ist auch der Titel und das Leitmotiv eines schmalen Büchleins, das diesen und drei weitere späte Essays von Oliver Sacks versammelt. Verfasst am Ende des Lebens oder gar im Angesicht des nahenden Todes handeln diese Texte von den grundlegenden Fragen unserer Existenz: Es geht buchstäblich um Leben und Tod, um Wissenschaft und Religion – und darüber, worauf es wirklich ankommt. In den Worten von Sacks: "Schwach, kurzatmig, meine einst festen Muskeln vom Krebs aufgezehrt, stelle ich fest, dass meine Gedanken sich zunehmend mit der Frage beschäftigen, was es heißt, ein gutes und erstrebenswertes Leben zu führen – und seinen inneren Frieden zu finden."

Meditationen über das Altern

Den Anfang macht ein etwas älterer Aufsatz, in dem Sacks ein Thema von "Onkel Wolfram" aufnimmt, jenem Buch, in dem er seine Kindheits- und Jugendjahre erzählt und seine Liebe für das Periodensystem. Sacks hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sein Alter mit der jeweiligen Ordnungszahl der chemischen Elemente in Verbindung zu bringen. An seinem 80. Geburtstag – dem Entstehungsdatum des Essays – wechselte er von Gold (Ordnungszahl 79) zu Quecksilber, das dieser geistreichen und versöhnlichen Meditation über das Altern auch den Titel gab.

In dem Text hofft er noch "auf ein paar gute Jahre voller Liebe und Arbeit – die wichtigsten Dinge im Leben, wie uns Freud versichert". Es sollten leider nur mehr drei Jahre werden. Ein halbes Jahr vor seinem Tod schrieb er dann "Mein Leben", jenen Essay, mit dem Sacks im Februar auf so anrührende und gefasste Art und Weise seinen bevorstehenden Tod ankündigte und in dem er darüber nachdenkt, wie er seine letzten Monate zu verleben gedenkt: "Mir bleibt keine Zeit mehr für Unwichtiges. Ich muss mich auf mich, meine Arbeit und meine Freunde konzentrieren. Ich werde mir nicht mehr jeden Abend die Nachrichten anschauen."

Loblied auf einen Tag der Ruhe

Im dritten Essay, "Mein Periodensystem", einer seiner letzten Reflexionen, nimmt Sacks dann noch einmal seine Leidenschaft für die exakten Naturwissenschaften zum Anlass, um über einige der großen Fragen der Forschung nachzudenken und Entdeckungen, die er nicht mehr erleben würde. Den Abschluss bildet "Sabbat"; darin wendet sich der Agnostiker, der aus einer jüdischen Ärztefamilie aus England stammte, dann noch der Religion und im Speziellen dem Judentum zu, dem er sich nach seiner Bar Mitzwa abgewandt hatte. Doch auch damit fand er am Ende Versöhnung – nicht zuletzt auch wegen des Sabbat – "der Tag der Ruhe, der siebte Tag der Woche, vielleicht auch der siebte Tag des eigenen Lebens, der einem das Gefühl gibt, man habe seine Arbeit getan und dürfe nun guten Gewissens ruhen".

Damit enden die vier Essays, deren Lektüre in einer halbe Stunde erledigt ist. Aber diese halbe Stunde kann nicht zuletzt dazu beitragen, die Bilanz des eigenen Lebens im vergangenen Jahr mit etwas anderen Augen zu sehen und die Vorsätze für das kommende Jahr um ein paar grundlegendere Perspektiven zu erweitern. Die 80 Seiten von "Dankbarkeit" können mithin den Rest des Lebens entscheidend bereichern. (Klaus Taschwer, 31.12.2015)