Emmanuelle Charpentier gilt zusammen mit ihrer Kollegin Jennifer Doudna als aussichtsreiche Nobelpreiskandidatin.

Foto: humboldt-stiftung / sven müller

Jeder noch so kurz gehaltene Lebenslauf von Emmanuelle Charpentier endet mit einer erstaunlich langen Liste von Preisen und neu verliehenen Mitgliedschaften in ehrwürdigen Akademien: Rekordverdächtige 14 davon hat die Mikrobiologin, seit kurzem Direktorin am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin, im gerade zu Ende gehenden Jahr erhalten.

Man darf getrost sagen: alles Lorbeeren, die man als Wissenschafterin nicht nachgeschmissen bekommt – wie zum Beispiel den renommierten Breakthrough Prize in Life Sciences.

Der Grund all dieser Ehrungen: Die in Juvisy-sur-Orge, einer kleinen Gemeinde südlich von Paris, geborene 47-jährige Wissenschafterin war maßgeblich an der Entwicklung eines molekularen Systems beteiligt, das, vereinfacht gesagt, genetische Veränderungen in allen Organismen durchführen kann. Für das renommierte Fachjournal "Science" war das "der Durchbruch des Jahres" – für den STANDARD der Grund, Charpentier zu seinem ersten "Kopf des Jahres" zu machen.

Im Vorfeld des heurigen Nobelpreises stand die Französin hoch oben auf der Favoritinnenliste. Abgesehen davon, dass Charpentier erst die vierte Frau in der Chemie-Laureatenliste seit 1901 gewesen wäre: Vielleicht war es für einen Nobelpreis ja auch noch zu früh. Studien haben gezeigt, dass zwischen einer wissenschaftlichen Entdeckung und dem Nobelpreis für gewöhnlich zwanzig Jahre vergehen. Die bahnbrechende Arbeit von Charpentier und ihren Kollegen stammt aber aus der jüngsten Vergangenheit, aus dem Jahr 2012. Damals hat sie gleichzeitig mit der nun ebenfalls als Nobelpreisträgerin gehandelten US-amerikanischen Strukturbiologin Jennifer Doudna und ihren beiden Postdocs den Schritt vom Speziellen ins Allgemeine gewagt und damit besondere Einsichten möglich gemacht.

Sie haben nachgewiesen, dass ein Immunabwehrsystem von Bakterien gegen Viren, CRISPR-Cas9 genannt, auch auf andere Organismen übertragen werden kann – relativ kostengünstig und unaufwendig. Die Bakterien schneiden damit fremde Gene aus sich heraus. Die Wissenschafter können damit die DNA scannen – und bestimmte Teile entfernen. So konnte man bereits Malaria-Mücken unschädlich machen, so könnte man Pflanzen genmanipulieren, so kann man wahrscheinlich auch aus der menschlichen DNA defekte Teile entfernen und durch funktionierende Gene ersetzen – was zu neuen Behandlungsmethoden bei Erbkrankheiten führen dürfte. Ein revolutionärer Ansatz.

Der Zeitpunkt der Entdeckung ist in vielerlei Hinsicht spannend: Charpentier, die wie andere französische Top-Wissenschafter an der Universität Pierre und Marie Curie in Paris studierte, ging nach Forschungsaufenthalten in New York 2002 an die Max F. Perutz Laboratories in Wien. Sie soll damals schon aufgefallen sein, obwohl wissenschaftlich gesehen noch ein relativ unbeschriebenes Blatt. Die Wittgensteinpreisträgerin Reneé Schroeder will "Manu", wie Kollegen sie nennen, als besonders talentiert und zielstrebig erkannt haben.

Keine Zukunftsperspektive in Österreich

Charpentier war Gruppenleiterin, sah aber nach gut sieben Jahren für sich keine Zukunftsperspektive mehr, obwohl sie das Vienna Biocenter, den Standort der Perutz Labs, bis heute als hochinnovativen Wissenschaftsort lobt – für RNA-Forschungen, weniger für die Wissenschaft, die sich mit Bakterien beschäftigt, also ihr Kerngebiet. Kritiker des Wissenschaftssystems meinen, dass es ein großer Fehler war, Charpentier ziehen zu lassen. "Man scheint oft nicht in der Lage zu sein, Talente zu erkennen", heißt es. Und mit Bezug auf die Perutz Labs: "Dort war man zu sehr darauf bedacht, Top-Wissenschafter zu akquirieren, anstatt jungen Forschern eine Chance zu geben. Das ist keine fantasievolle Personalpolitik."

Charpentier ging jedenfalls nach Umea in Schweden und hatte in dieser Phase die entscheidenden Ideen für das CRISPR-Cas9-System – gemeinsam mit ihrem damaligen Postdoc Krzysztof Chylinski. E-Mails legen Zeugnis davon ab und machen klar, dass Charpentier zu Recht gemeinsam mit ihren Kollegen das Patent hält. Der Neurowissenschafter Feng Zhang vom Broad Institute am MIT in Boston macht es ihnen dennoch streitig und behauptet, der Erste gewesen zu sein. Charpentier schweigt zu dieser Frage. Auch bei Preisverleihungen, bei denen sie gemeinsam mit Doudna auftritt, wirkt sie eher zurückhaltend lächelnd neben der strahlenden, fröhlichen US-Amerikanerin.

Deutlicher wird sie, wenn genetische Veränderungen mit CRISPR-Cas9 in der Keimbahn unternommen werden. Da hat sie enorme ethische Bedenken und ist strikt dagegen. Heuer hat ein chinesisches Team an einem nicht lebensfähigen Embryo einen Gendefekt, der zu einer Bluterkrankheit führen kann, repariert – und wurde dafür von ihr, Doudna und anderen besorgten Wissenschaftern angegriffen. Was zeigt, dass die Diskussion über gesellschaftliche Auswirkungen der Nutzung von CRISPR-Cas9 erst am Anfang steht. (Peter Illetschko, 31.12.2015)