In Zeiten, in denen alle mit den Flügeln schlagen vor lauter Aufgeregtheit, empfiehlt es sich, zu den Dichtern zu gehen und sie um Rat – eine Erzählung, einen schrägen Blick, ein vortreffliches Wort – zu bitten. So ungefähr wird sich wohl das Arbeitsmotto des Karl-Markus Gauß zusammenfassen dürfen. Und so hat er sich im neuesten Heft seiner Zeitschrift Literatur und Kritik dem verworrenen und zunehmend verwordagelten Ungarland zugewandt.

In Zusammenarbeit mit dem Budapester Goethe-Institut, zusammengestellt von dessen Mitarbeiterin Márta Nagy und dem Übersetzer Lajos Adamik, berichten 14 Autoren aus dem "anderen Ungarn". Ein Ungarn ist das, in dem sich die enttäuschten Hoffnungen zu einem geradezu absurd anmutenden Neonationalismus geklumpt haben, der sich auch nicht scheut, die alten und auch die uralten Geister zu rufen, die ja da und dort auch schon begonnen haben zu wallen so manche Strecke.

"Unser Name ertönt im Lautsprecher / und wir springen auf. Unser Name / wird falsch ausgesprochen, / doch wir lächeln ergeben.", beginnt die Lyrikerin Krisztina Tóth ihr Osteuropäisches Triptychon, "Aus dem Hotel nehmen wir die Seife mit, / zur Bahnstation gehen wir zu früh."

Anna T. Szabó findet in der Wohnung ihrer unlängst verstorbenen Tante in Budapest "das unerklärliche Geröll eines Lebens", in dem sich dann aber das Ganze spiegelt. László Végel berichtet aus der Wojwodina und darüber, wie das so ist, identitär zwischen allen Stühlen zu sitzen. László Márton gibt Einschau in seinen entstehenden Roman, der an 1882 erinnert. "Der andere Hydrakopf, der unser Land anfletscht, ist die galizische Flüchtlingskrise. Zehntausende, ja Hunderttausende Juden strömen aus Russland in unser benachbartes Galizien."

"Hult hely", so Lajos Adamik nennt man Plätze, "wo eben noch jemand oder etwas war, wo aber plötzlich nur noch dessen ausgekühlte Stelle zu finden ist." Die von ihm und Márta Nagy versammelten Texte "handeln immer wieder von solchen Orten". Aber nicht nur. Literatur dreht sich ja immer auch ums Gegenteil. Um Orte also, an denen demnächst jemand oder etwas sein wird. Denn wie sonst ließe sich darüber so präzise schreiben? (Wolfgang Weisgram, 30.12.2015)