In den kühlen Morgenstunden des 25. November 2014 wurde das Roma-Viertel in der südbulgarischen Stadt Pasardschik unsanft aus dem Schlaf gerissen. Gegen sechs Uhr früh rollten gepanzerte Autos der Polizei durch die schmutzigen Straßen, und schwer bewaffnete, maskierte Beamte stürmten mehrere Gebäude, unter ihnen auch die Ebu-Bekir-Moschee.

Ein Imam, Achmed Mussa, war der Erste, der verhaftet wurde. Am Ende des Tages waren im Zuge einer gemeinsamen Operation der Staatlichen Agentur für Nationale Sicherheit (DANS) und der Staatsanwaltschaft, die die Verbreitung radikaler islamistischer Propaganda untersuchte, 26 Personen inhaftiert worden. Die Polizei durchsuchte über 40 Häuser im Istok-Viertel und andere Orte nach Material, das auf die Unterstützung der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) hinweist.

Eine Gruppe bärtiger Männer im Hof der Moschee machte ihrem Ärger gegenüber Reportern Luft. "Wir haben nichts mit dem IS zu tun. Ich kenne ihn so gut, wie ich Sie kenne", fauchte ein großer Mann. Ein Stück Papier steckte an seiner Kappe, auf dem in arabischer Schrift zu lesen war: "Es gibt keinen Gott außer Allah" – ein Satz, der auf den schwarzen Flaggen der IS-Kämpfer verwendet wird, der aber auch eine Säule des islamischen Glaubens ist.

Eine Razzia gegen Achmed Mussa und weitere Personen.
schueller

Sieben Monate später, im Juli 2015, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen 14 Muslime – darunter Imam Mussa. Ihnen wurde vorgeworfen, religiösen Hass zu schüren und durch die Verbreitung von IS-Propaganda den Krieg in Syrien und im Irak zu unterstützen. Dem Balkan Investigative Reporting Network (BIRN) liegt die Anklageschrift vor. Darin werden Mussa und zwei andere Personen zudem beschuldigt, ausländische Jihadisten auf ihrem Weg nach Syrien unterstützt zu haben.

Nicht zugehörig

Mussa ist ein 40-jähriger, charismatischer salafistischer Prediger mit zwei Vorstrafen wegen Verbreitung religiösen Hasses. Mussas Viertel Istok liegt im Herzen von Pasardschik. Dort fühlt man sich dem Rest der Stadt irgendwie nicht zugehörig. Die In frastruktur ist schlecht, es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel. Die Mehrheit der 20.000 Einwohner des Viertels spricht Türkisch als Muttersprache. Von der bulgarischen Gesellschaft werden diese Menschen zumeist als "Roma" wahrgenommen, auch wenn sie sich selbst oft als Türken oder einfach als Muslime bezeichnen. Früher waren sie nicht so streng gläubig, was zum Teil damit zu tun hatte, dass Religion vom kommunistischen Regime unterdrückt wurde. Sie praktizierten eine ei gentümliche Form des Islam, die auch Elemente des Christen- und des Heidentums beinhaltete.

Achmed Mussa, ehemals Angel Stoyanov, gilt als charismatischer Prediger. In Österreich kon vertierte er zum Islam. Der bulgarische Staatsanwalt wirft ihm vor, gläubige Muslime als Kämpfer für den IS anzuwerben.

"Wenn wir den Kuckuck rufen hörten, dachten wir, dass jemand sterben würde. An solche Dinge glaubten wir", sagt ein Mann aus der Gemeinde. "Das ist nicht der Islam." Abdullah Salih, der Großmufti der Provinz Pasardschik, formuliert es so: "Sie wurden als Muslime geboren. Sie sagten, sie seien Muslime, aber sie benahmen sich im täglichen Leben nicht wie Muslime. Inzwischen haben sie gelernt."

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989 stießen religiöse Gruppierungen bei den Roma auf offene Ohren. Einige bulgarische Muslime reisten in die Türkei und in den Nahen Osten, um ihr religiöses Wissen zu vertiefen. Sie brachten fremde Bräuche und Rituale mit, die zu Konflikten zwischen neuen und alten Imamen führten.

Mussa war bis zu seinem 20. Lebensjahr Christ und besuchte die örtliche evangelische Kirche, wurde aber später eine Leitfigur des neuen Islam in Istok. Gerichtsunterlagen seiner Vorstrafen vermitteln eine Kurzversion seiner Wandlung. Während eines Besuchs in Österreich Mitte der 1990er-Jahre konvertierte er zum Islam und besuchte später einen einjährigen Kurs für Imame im bulgarischen Dorf Surnitsa. Sein Lehrer, der über eine theologische Qualifikation aus Saudi-Arabien verfügte, machte ihn mit salafistischen Ideen bekannt.

Mussa, dem in seiner Jugend eine Mischung aus Depression und Schizophrenie diagnostiziert wurde, hat von den offiziellen muslimischen Behörden in Bulgarien keine Bewilligung, als Imam zu arbeiten. Dennoch machte er sein Haus zu einer Gebetsstätte und begann zu predigen. Er wurde später Mitglied der Ebu-Bekir-Moschee, die 2002 zum Teil mit Mitteln einer saudischen Stiftung errichtet worden war. Er predigte für gewöhnlich überall – in Kaffeehäusern und auf der Straße, bei Hochzeiten und Beerdigungen. Seine Ideen verbreiteten sich über Skype und Youtube in die benachbarten Städte und Migrantengemeinden in Westeuropa.

Mussa wurde für manche Leute aus der Nachbarschaft, die ihn für einen guten Menschen halten, rasch zu einer Autorität. Eine Frau ist überzeugt, er würde "sein Herz für die Armen geben". Unter seiner Führung haben seine Anhänger in den vergangenen zehn Jahren allmählich ihr Erscheinungsbild, ihre Bräuche und Gepflogenheiten geändert. Sie gaben ihre bulgarischen Namen auf und tauschten sie gegen arabische ein. Mussa selbst hieß früher Angel Stoyanov. Sie begannen, nur muslimische Festtage und keine Nationalfeiertage zu feiern – nicht einmal Geburtstage. Die Männer ließen sich lange Bärte wachsen, trugen kurze Haare und lange Gewänder. Die Frauen begannen, ihre Gesichter unter Burkas zu verstecken.

Nun wird Mussa zur Last gelegt, in seinen Predigten Krieg zu propagieren, mit der IS-Flagge im Hintergrund. Den Zeugenaussagen in der Anklageschrift zufolge habe er seinen Anhängern wiederholt erklärt, dass es die Pflicht eines jeden Muslims sei, dem vom IS in Syrien und im Irak ausgerufenen Kalifat und seiner Armee beizutreten.

Mindestens 332 ausländische Kämpfer aus Westeuropa und den westlichen Balkanstaaten sind zwischen Anfang 2013 und Juni dieses Jahres auf ihrem Weg nach Syrien und in den Irak durch Bulgarien gereist, auch wenn es nicht alle bis ins Kriegsgebiet schafften.

Die Menschen in Istok sagen, dass Mussas Anhänger, deren geschätzte Zahl zwischen 300 und 500 liegt, zu den anderen im Viertel auf Distanz gehen.

Zoya Simeonova in dem Gemeindezentrum

Sasho, ein 50-jähriger Mann, sitzt an einem warmen Tag vor seinem Kebab-Geschäft und Café im Zentrum von Istok und kann mit einem anderen Beispiel aufwarten. "Sehen Sie", platzt er heraus und zeigt mit dem Finger auf die Gäste eines angrenzenden Kaffeehauses. "Die mit den Bärten kommen nicht zu mir ins Geschäft." Er sagt, Leute aus Mussas Gemeinde würden nur zu seinem Konkurrenten gehen, weil er Muslim ist: "Sie unterhalten sich nicht mehr mit anderen."

Andere Muslime in Istok sind der gleichen Meinung und lehnen Mussas Interpretation des Islam ab. "Ich kann nicht so leben, wie man vor tausend Jahren gelebt hat. Ich bevorzuge eine Form des Islam, die dem modernen Leben entspricht", sagt Yashar Angelov, ein 55-jähriger Beamter, der im Rathaus von Pasardschik arbeitet.

Die Beziehungen zwischen der kleinen christlichen Gemeinde in Istok und Mussas Anhängern sind noch angespannter. In einem Fastfood-Restaurant, mitten im Lärm der Mittagspause, hebt Yanko Angelov, der Sohn eines hiesigen evangelischen Pastors, sein T-Shirt und zeigt auf die Pistole an seinem Hosenbund. Er trage die Waffe als Schutz, sagt er, seit er und sein Vater 2005 angegriffen wurden. Vor vier Jahren habe eine Gruppe muslimischer Männer aus Istok außerdem einen anderen Pastor und dessen Freund mit Schlagstöcken und Eisenrohren schwer zusammengeschlagen.

Angelov ist überzeugt, dass diese Angriffe einen religiösen Hintergrund haben, auch wenn sie in Polizeiberichten nur als "Verstöße gegen die öffentliche Ordnung und Ruhe" aufscheinen. Er sagt, Konflikte zwischen der evangelischen Gemeinde und den "Taliban", wie er sie nennt, seien in Istok gang und gäbe.

Soziale Gründe

Manche glauben, die Gründe dafür, dass sich Mussas Anhänger dem Salafismus zuwandten, seien nicht primär religiöser Natur."Die dringlichsten Probleme in diesem Viertel sind soziale und wirtschaftliche", sagt Yashar Sali, als Imam der wichtigsten Moschee der Stadt das Gesicht des "offiziellen Islam" in Pasardschik. "Wenn sie ein normales Leben führten, würden sie sich nicht für diese Strömungen interessieren", sagt er und behauptet, dass die Bürger von Istok vom Staat im Stich gelassen und einem "wirtschaftlichen Genozid" ausgesetzt worden seien.

Ein Mann vor einer Moschee in Köln.

Als Bulgarien in den 1990ern zum System der Marktwirtschaft wechselte, traf es die Roma am schlimmsten. Viele waren in staatlichen Fabriken und Agrargenossenschaften beschäftigt gewesen, die geschlossen oder aufgelöst wurden. Kürzungen der Ausgaben im Gesundheits- und Bildungs wesen hatten eine besonders fatale Auswirkung auf die ländlich strukturierten und isolierten Gemeinden, in denen viele Roma leben. Die Menschen dort hatten nur noch beschränkten Zugang zu Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten, Sozialeinrichtungen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Volkszählung im Jahr 2011 zufolge sind 60 Prozent der Roma über 15 Jahre nicht erwerbstätig. Mindestens zwei Generationen der Roma sind praktisch ohne Bildung und in immer größerer Armut aufgewachsen.

Antonina Jeliazkova, Anthropologin und Leiterin einer in Sofia ansässigen NGO, meint, es sei wenig überraschend für sie, dass die Menschen in Istok auf der Suche nach einer neuen Identität seien. "Sie wollen Teil von etwas Größerem sein, etwas, das die Mauern ihrer Ghettoisierung niederreißt", sagt Jeliazkova.

Yanko Mishev, Leiter des Kuratoriums der Ebu-Bekir-Moschee in Istok, sagt, dass Arbeitgeber gegenüber Menschen aus der Gemeinde voreingenommen seien und ihnen keinen Job geben würden. "In Pasardschik ist der Rassismus am größten", sagt er bei einem türkischen Kaffee nach dem Freitags gebet. Mishev schätzt, dass mehr als die Hälfte der Einwohner des Viertels im Ausland arbeiten. "Egal welche jungen Männer ihr jetzt auf der Straße trefft, sie werden in einem Monat wieder weg sein", sagt er.

Ein Job in Deutschland bedeutet für Roma-Familien zumeist die ökonomische Lebensader. Die offiziellen Ermittlungen gegen Mussa und seine Gruppe legen jedoch nahe, dass sie auch gefährliche Verbindungen schaffen kann.

Verbindung nach Köln

Ein Zeuge erzählte der Staatsanwaltschaft, dass einer der Angeklagten, Angel Simov, jenen Türken, dem er angeblich geholfen hatte, nach Syrien zu reisen, bei der Arbeit in Deutschland kennengelernt hatte. Gerichtsunterlagen belegen, dass Mussa 2001 in Köln Kontakt mit der in Deutschland ansässigen, radikalen türkischen islamistischen Organisation Kalifatstaat aufnahm und sich bereiterklärte, ihre Ideen zu verbreiten.

Bulgarische Arbeite in Köln-Ehrenfeld.

Köln hat über 5000 bulgarische Einwohner, darunter viele Gastarbeiter aus Pasardschik. Gruppenweise stehen sie an der Kreuzung der Hansemannstraße und der von Bäumen gesäumten Venloer Straße im Bezirk Ehrenfeld herum. Sie sind dort um sechs Uhr früh, wenn die Lastwagen sie für Einsätze auf der Baustelle aufsammeln, und dann wieder am Abend, Zigaretten rauchend, ihre Gesichter gezeichnet von den Mühen des Arbeitstages.

An dieser Ecke steht auch Rujdi Zakir, ein kleiner, redseliger Mann aus Pasardschik, der in einer Kölner Kohlefabrik arbeitet. Er ist Mitglied der Gemeinde von Achmed Mussa und schimpft auf die bulgarischen Politiker und Medien, die seiner Meinung nach mit der Dämonisierung des Imams und seiner Anhänger Konflikte schüren. "Sie sagen, wir würden zum Islamischen Staat gehören. Ja, meine Frau trägt eine Burka, aber wie macht sie das zu einer Terroristin?", fragt er.

Er vergleicht Bulgarien mit Deutschland, und wenig überraschend schneidet sein Heimatland dabei schlecht ab. In Deutschland, sagt Zakir, versuche niemand, Menschen nach ethnischer Zugehörigkeit oder Religion zu trennen.

Eliza Aleksandrova, eine Bulgarin, die ein Zentrum für muslimische Frauen in Köln leitet, äußert sich ähnlich. Aleksandrova hilft Familien aus der Pasardschik-Gemeinde, Arbeit zu finden und Deutschkurse zu besuchen. "Die deutsche Gesellschaft ist offen, deshalb haben diese Menschen hier eine Chance, ein normales Leben zu beginnen", sagt sie.

Sie verfolgt die Nachrichten über die Ermittlungen gegen Mussa und seine Anhänger mit Bestürzung. Sie ist überzeugt, dass die bulgarischen Behörden das Pro blem übertrieben darstellen, "weil sie wenig über Religion wissen und verstehen, besonders, was den Islam betrifft". Ivelina Karabashlieva, Expertin für Radika lisierungsprävention, hat Bedenken, was die Folgen des Gerichtsprozesses gegen Mussa und seine Anhänger betrifft: "Bulgarien sollte in die Prävention investieren. Du kannst eine Geisteshaltung nicht mit Verurteilungen verändern."

Istok, jenes Viertel im Herzen von Pasardschik, einer Stadt in Südbulgarien, ist Heimat all jener, die am Rande der Gesellschaft leben: Die Roma, die sich selbst als "Türken" oder "Muslime" bezeichnen, fühlen sich vom radikalen Imam und seinen "Brüdern" verstanden und gehört.

Der Staat sollte eine Alternative zur IS-Propaganda anbieten, sagt sie. Das bedeute aber auch, dass Lehrkräfte darauf vorbereitet werden müssen, diese Themen mit ihren Schülern zu diskutieren, und wissen sollten, wie man Zeichen der Radikalisierung erkennen kann. Sozialarbeiter und lokale Gemeindebeamte sollten in den Grundlagen des Islam und Sala fismus geschult werden, um zu verstehen, was gefährlich sei und was nicht.

Die Angeklagten warten derweil noch immer auf ihren Gerichtstermin. Ein Richter entschied am 2. Dezember 2015, dass die Verhandlung nicht fortgesetzt werden könne, da die ursprüng liche Anklage Unklarheiten und Verfahrensmängel aufweise. Die Staatsanwaltschaft reichte umgehend eine überarbeitete Ankla geschrift ein, die die Einwände des Gerichts berücksichtigte, und schuf so die Voraussetzungen dafür, dass der Prozess 2016 beginnen kann.

Drei der in diesem Fall angeklagten Männer haben die gegen sie vorgebrachten Anklagepunkte akzeptiert. Eine Person enthielt sich der Aussage. Alle anderen, darunter auch Mussa, bekannten sich nicht schuldig. (Zornitsa Stoilova, 8.1.2016)