Asylexperten sind imstande, die Zahl von Flüchtlingen aus Kriegen und Krisen ziemlich präzise zu benennen. Aber wann genau sich die Menschen auf die Reise machen, wohin und auf welchen Wegen, wissen sie nicht. Das hängt mit den Bedingungen heutiger Fluchten zusammen: Obwohl 149 der weltweit 193 Staaten Vertragspartner der Genfer Flüchtlingskonvention sind, die das Menschenrecht auf Asyl festschreibt, sind Schutzsuchende meist gezwungen, sich illegal fortzubewegen.

Da es außerdem nur in wenigen Ländern funktionierende Asylsysteme gibt, müssen Flüchtlinge in Lagern oder gesellschaftlichen Nischen überleben. Um gegebenenfalls in besser organisierte Länder wie Deutschland, Schweden oder Österreich weiterzuziehen – wieder illegal.

All dies kommt einem Förderprogramm für Schlepper und andere Formen organisierter Kriminalität gleich – einem Programm, das von den weltweiten Defiziten des Asylwesens profitiert. Angesichts der Vorhersage weiterer großer Fluchtbewegungen ist das eine gefährliche Situation. Dies gilt vor allem für die EU, wo bereits der Diskurs über die Flüchtlinge, die bisher kamen, intolerant-rechtslastige Bewegungen und Parteien gestärkt, ja in Regierungsverantwortung gebracht hat.

In die EU könnten 2016 durchaus noch mehr als die rund 1,5 Millionen Asylsuchenden des heurigen Jahres kommen – in eine Union, die in Sachen Flüchtlingsaufnahme in eine Gruppe "williger" und eine Gruppe verweigernder Staaten zerfallen ist; die solidarisch bis dato lediglich beim Ausdenken möglicher Abwehrmaßnahmen war. Tatsächlich wurden bei den bisherigen Gipfel- und Sondertreffen nur ganz am Rande Maßnahmen erwogen, um die Unvorhersehbarkeit der Fluchtbewegungen zu verringern. Dabei erscheinen gerade solche Schritte sinnvoll – sind sie doch geeignet, die von vielen Menschen wahrgenommene besondere Dramatik der Lage zu verringern.

Konkret handelt es sich dabei um Pläne, wie die EU Einreisen Schutzsuchender möglichst umfassend selbst in die Hand nehmen, sie also Illegalität und Schleppern zum Teil entreißen könnte. Dazu müsste man Flüchtlingen ermöglichen, legal herzukommen, nachdem ihre Schutzwürdigkeit außerhalb Europas geprüft wurde. Sei es, wie bisher schon, durch das UN-Flüchtlingshochkommissariat – aber auch, wie es etwa der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak vorschlägt, indem Botschaften und EU-Delegationen ermächtigt werden, Asylanträge entgegenzunehmen. Letzteres würde voraussetzen, dass es eine EU-weite Asylbehörde mit Durchgriffsrecht gibt, die auch Präventivmaßnahmen gegen die aus Zeiten des Botschaftsasyls noch erinnerliche Korruption setzen müsste.

Nun ist Derartiges angesichts des Zustands der EU nicht durchsetzbar. Aber vielleicht funktioniert eine Politik der kleinen Schritte. Ein erster könnte das von der Gruppe der "Willigen" mit der EU-Kommission bis Februar angekündigte Resettlement-Programm für mehrere 10.000 Flüchtlinge aus der Türkei sein. Klappt die Sache diesmal, wäre dies ein Lichtstreifen am düsteren europäischen Flüchtlingskrisen-Horizont – und könnte darüber hinaus auch international neue Asylstandards setzen. (Irene Brickner, 29.12.2015)