Die Historikerin Tamara Scheer forscht in Wien über den Ersten Weltkrieg, eine Zeit, als der Ausnahmezustand galt. Überdies gab es ein eigenes Kriegsüberwachungsamt. Die Grundlagen gingen auf Gesetze von 1867 zurück.

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Wien – Die Regierung Frankreichs brachte knapp vor Weihnachten eine Reform auf den Weg, um die Möglichkeit zur Verhängung des Ausnahmezustands in der Verfassung zu verankern. In Österreich sollen Anfang 2016 Experten eruieren, ob es auch hierzulande die Möglichkeit eines nationalen Notstands geben soll – dazu gab Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) den Anstoß. Im Falle eines Notstands könnten Bürgerrechte vorübergehend außer Kraft gesetzt werden.

Das geht derzeit in dieser Form nicht. Vor rund 100 Jahren war es anders: Historikerin Tamara Scheer vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft in Wien forscht seit Jahren zum Ersten Weltkrieg und hat sich den 1914 über die österreichische Reichshälfte Österreich-Ungarns verhängten Ausnahmezustand angesehen – was er bedeutete und welche Schwierigkeiten es in der Umsetzung gab.

Grundrechte und deren Suspendierung

Die Grundlagen gehen auf ein Jahr zurück, in dem Bürgern gewisse Grundrechte zuerkannt wurden. 1867, als die sogenannte Dezemberverfassung verabschiedet wurde, gewährte einer der 20 Artikel dem Kaiser und der Regierung zugleich, einzelne Grundrechte zeitlich und örtlich begrenzt zu suspendieren. 1869 wurde festgelegt, wann das Gesetz Anwendung finden sollte: nicht nur im Kriegs-, sondern auch im Krisenfall.

Es wurde eigens ein Kriegsüberwachungsamt, eine beim Militär angesiedelte Behörde unter Leitung eines Generals, eingerichtet. "Die Bevölkerung dachte über das Kriegsüberwachungsamt, dass es etwas rein Militärisches war", sagt Scheer im STANDARD-Gespräch. "Aber das war es nicht." Post und Zeitungen wurden gelesen und zensiert, es gab Hausdurchsuchungen, Verhaftungen ohne Richterbeschluss und in Einzelfällen auch Telefonüberwachung.

Die vielen neuen Aufgaben der Post

"1914 hatte jede Poststelle plötzlich ganz viele Aufgaben: Die mussten Personal haben, das alle Briefe liest, alle Pakete öffnet und das fähig sein musste zu entscheiden, was zu zensieren ist", sagt Scheer. Schlussendlich sei es am Einzelnen gelegen, was er als verdächtig erachtete.

"Nach zuverlässigen Nachrichten" halte sich "eine grosse Zahl sehr verdächtiger Elemente auf", hieß es am 3. August 1914 in einer Kundmachung.
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"Die meisten Postmitarbeiter waren im Krieg an der Front, also wurden irgendwelche Mitarbeiter eingestellt, die zum Teil auch schon mit den normalen Postaufgaben überfordert gewesen wären", schildert die Historikerin. "Sie mussten aber in allen zwölf Sprachen, die erlaubt waren, zensieren." War einmal der Beamte, der zum Beispiel als Einziger Ungarisch konnte, auf Urlaub, sei durchaus auch vorgekommen, dass in der Sprache verfasste Briefe einfach verschwanden.

Personalapparat schwoll an

Für die Zensur brauchte es viel Personal: Ursprünglich seien für das Kriegsüberwachungsamt eine Handvoll Delegierte aus den Ministerien, rund zehn Offiziere, die Vorzensuriertes beurteilten, und zehn "Manipulanten", die an der Schreibmaschine tippten, tätig gewesen. "Später waren tausende Leute für das Amt tätig, jene noch nicht mit eingerechnet, die an den Zensurstellen in den Postämtern saßen", beschreibt Scheer die Entwicklungen. Außerdem habe man irgendwann Überwacher für die Überwacher gebraucht.

Weiße Flecken in Zeitungen

Auch die Presse wurde zensiert: "Streichungen von Artikeln kamen von der Zensur so spät, dass der Text schon gesetzt war. Man konnte sie nur mehr abdecken: Die berühmten weißen Flecken entstanden", schildert Scheer. "So wusste man in der Welt, dass hier Zensur betrieben wurde, wie sie eigentlich nicht geplant gewesen war."

Ein "weißer Fleck" mit knapper Erklärung dazu im Tarif-Anzeiger vom 1. November 1914.
Foto: Screenshot mit Markierung aus Tarif-Anzeiger

Durch die weißen Flecken in Zeitungen wurde Österreich international laut Scheer "ein wenig zur Lachnummer". Internationale Zeitungen berichteten darüber, darunter die "New York Times".

Was ist "kriegswichtig"?

Anfangs sei nur ganz allgemein festgelegt worden, was zu zensieren war. Etwa: "Alles, was gegen die Monarchie gerichtet ist." Oder: "Alles, was Aufschluss darüber geben könnte, wie es an der Front aussieht und was kriegswichtig ist." Allerdings sei es für das eiligst rekrutierte Personal schwierig gewesen, dies zu beurteilen – etwa, was denn nun "kriegswichtig" war. Man ging also dazu über, Verbote detaillierter zu erläutern. Doch die Weitergabe dieser Listen an Details sei auch bald zu aufwendig geworden.

Manchen Gruppen misstraut

Wichtig sei immer auch gewesen, wie man die Überwacher auswählt. Es brauchte Sprachkenntnisse, um Inhalte richtig einschätzen zu können. Allerdings traute man Angehörigen bestimmter Sprachgruppen weniger als anderen. Tschechen oder Serben galten etwa als weniger königstreu.

Sprachdilemma

"Wenn man da an die heutige Situation denkt und es zum Beispiel darum gehen sollte, dass jemand einschätzen soll, wie etwas in einer Moschee Gesagtes zu verstehen ist, da stellt sich die Frage: Wer kann das beurteilen?", sagt Scheer. Es komme ja immer darauf an, welche Person das höre und wie diese das Gesagte einschätze. "Wer aber sucht diese Person aus?"

Fragen dieser Art tauchten auch im Ersten Weltkrieg auf. Wie sie damals beantwortet wurden? Scheer: "Eigentlich war irgendwann der Krieg aus, ohne dass man wusste, wie es funktioniert." (Gudrun Springer, 27.12.2015)