Jesper Juul: "Kinder psychisch kranker Eltern haben nicht immer ein schlechteres Leben als andere Kinder, aber sie haben mit Sicherheit ein anderes Leben."

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Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Frage

Unsere geliebte Tochter ist 35 Jahre alt. Sie war mehr als sechs Jahre wegen Depressionen in Behandlung. Nun ist sie verheiratet, vor drei Jahren wurde ihr Sohn geboren.

Meine Mutter litt an der gleichen Krankheit wie meine Tochter und starb letztlich daran. Seit der Geburt unseres Enkels gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Meine Frau und ich sind mit Herz und Seele Großeltern. Es ist uns eine unaussprechliche Freude zu erleben, wie der Kleine heranwächst. Das haben wir auch unserer Tochter und ihrem Mann zu verdanken, die es uns ermöglichen, unser Enkelkind so oft wie möglich zu sehen. Wir haben also mehr Zeit mit ihm, als nur schnell auf ein Eis oder einen Spaziergang im Wald zu gehen.

Die unfreiwillige Erfahrung von Schuld und Verzweiflung mit meiner Mutter veranlasst mich zu diesen Zeilen. Ich habe den Verdacht, dass es unserem Enkel womöglich nicht gut geht. Er läuft ohne ein Lächeln auf seinen Lippen herum, führt Selbstgespräche und macht den Anschein, traurig zu sein – vor allem deshalb, weil er meint, dass in den Kindergarten zu gehen ein Job ist, so wie auch seine Mama arbeiten geht. Es schmerzt, ihn so zu sehen, und wir machen uns Gedanken darüber, ob er vielleicht nicht das bekommt, was er braucht. Wie denken Sie darüber, was Eltern und Großeltern tun können, um ein gutes Netzwerk aufzubauen, in dem unser Enkel psychisch "unverletzt" aufwächst?

Unserer Tochter haben wir erst mit 14 erzählt, was mit ihrer Großmutter passiert ist.

Antwort

Ich kann Ihre Gedanken gut verstehen, vor allem weil Sie selbst als Kind erfahren haben, wie die Persönlichkeit einer psychisch kranken Mutter Ihr eigenes Selbstbild beeinflusst. Aber das muss nicht nur eine negative Erfahrung sein.

Es gibt zwei wichtige Ansatzpunkte für das künftige Wachstum und die Entwicklung Ihres Enkelkindes. Der erste ist die vollständige Transparenz zwischen Ihnen und Ihrer Tochter beziehungsweise Ihrem Schwiegersohn und die gemeinsame Erkenntnis, dass die Erziehungsbedingungen nicht optimal für Ihren Enkel sind. So können Sie sich entweder auf eine gemeinsame Verpflichtung in Bezug auf diese Erkenntnis einigen oder diese unabhängig voneinander wahrnehmen.

Es ist nicht leicht, die Art der Hilfe von seinen Eltern und Schwiegereltern zu erhalten, und es ist nicht leicht zu wissen, wie viel, wann und was Ihre Rolle dabei sein kann. Idealerweise wird der folgende Rahmen geschaffen: ein halbjährliches Treffen zwischen Ihnen, sozusagen eine Bestandsaufnahme. Vielleicht auch ein monatliches vorbeugendes Treffen Ihrer Tochter mit Ihrem Mann bei einem erfahrenen Psychologen oder Familientherapeuten.

Ihre Tochter quält sich womöglich mit Schuldgefühlen, und ihr Mann kann völlig erschöpft und frustriert darüber sein, dass er der Frau, die er liebt, nicht helfen kann. Der zweite Aspekt ist, dass Ihr Enkel ist, wie er ist. Niemand kann wissen, wie er sich unter anderen Umständen entwickeln mag. Dennoch hat er genau das gleiche Bedürfnis, gesehen, gehört und ernst genommen zu werden, wie alle anderen Menschen auch. Daher ist es wichtig, dass Sie Ihre Sorgen und Ängste kontrollieren und sich Ihr Enkelkind nicht langsam zu einem "Projekt" oder einem "Kind, das gerettet werden muss", entwickelt. Er hat die Eltern, die er hat, und er wird, wie alle anderen Kinder auch, herausfinden, wie man mit ihnen lebt und in Beziehung ist.

Zum richtigen Zeitpunkt wird es sehr wertvoll für ihn sein, von Zeit zu Zeit einen Großvater zu haben, wenn er traurig ist, und der zu ihm sagt: "Ich kann sehen, dass du traurig bist, und ich möchte dir eine Geschichte aus der Zeit, als ich klein war, erzählen." So können Sie ihm von Ihren Erfahrungen aus der eigenen Kindheit mit einer psychisch kranken Mutter berichten. Sein Bedürfnis wird mehr in der Anerkennung als in der Hilfestellung liegen.

Außer der Liebe und Weisheit seiner Großeltern muss er auch mit anderen Kindern zusammen sein, um altersgerechte Dinge zu tun, dumm, frech und unverantwortlich zu sein. Zum anderen braucht er die Ermutigung, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Ein Leben mit einem psychisch kranken Elternteil mobilisiert extrem vieles, was ich "soziale Verantwortung" nenne, bei Kindern. Diese Kinder neigen dazu, die Bedürfnisse aller anderen über die eigenen zu stellen. Das ist ein tiefverwurzelter Teil der menschlichen Natur. Das einzige Gegenmittel ist die Möglichkeit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und für die eigenen Grenzen, Bedürfnisse und Gefühle.

Sollte Ihr Enkel also in den letzten Jahren manchmal zum "vorsätzlichen Stursein" oder Ähnlichem neigen, so entspannen Sie sich für eine Weile und feiern Sie es mit einem guten Glas Wein! Kinder psychisch kranker Eltern haben nicht immer ein schlechteres Leben als andere Kinder, aber sie haben mit Sicherheit ein anderes Leben. Es ist ratsam, dafür zu sorgen, dass sowohl Kindern als auch Eltern professionelle Hilfe zur Verfügung steht, wenn sie diese brauchen. Es kann sein, dass er sich zu einem späteren Zeitpunkt isoliert und sich in sein Universum zurückzieht. Ob das mit vier oder 14 geschieht, kann niemand vorhersagen. Denken Sie daran, dass Sie ihn aus seiner Einsamkeit nicht retten, sondern ihn nur begleiten können. (Jesper Juul, 3.1.2015)