Der Highway 37 im nordostindischen Staat Assam führt durch den Kaziranga-Nationalpark. Panzernashörner, Elefanten und Leoparden machen das Naturreservat zu einem Touristenmagneten. Nur wenige Kilometer weiter Richtung Westen wird der Dschungel durch die malerischen Teeplantagen Assams abgelöst. Der weiche Boden zwischen den sattgrünen Teestauden dämpft jeden Schritt. Nach einigen Minuten Spaziergang im Seconee Tea Estate in der Stadt Jakhalabandha blitzen bunte Saris auf.
Teepflückerinnen bewegen sich konzentriert zwischen den Stauden. Pro Tag müssen sie 25 Kilogramm Blätter schaffen, sonst werden sie nicht bezahlt. Es wird kaum geredet, es ist nur das Geräusch zu hören, das bei dem Abrupfen der Blätter entsteht. Damit der Tee seine hohe Qualität behält, wird nicht mit Maschinen geerntet. Fast ein Viertel der weltweiten Teeproduktion stammt aus Assam. Rund 1,1 Millionen Menschen arbeiten in dem Zweig.
Unter dem Mindestlohn
Als um 12 Uhr das schrille Läuten einer Glocke die Stille durchbricht, eilen die Arbeiterinnen barfuß davon, um die Ausbeute der ersten Schicht wiegen zu lassen. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt 169 Rupien pro Tag, etwa 2,30 Euro. Hier bekommen die Plantagenarbeiter nur 115 Rupien, rund 1,57 Euro. Ob das Gewicht stimmt, das ein männlicher Vorarbeiter abliest: Kontrollieren kann das kaum eine Frau. Die meisten können nicht lesen.
Die großteils weiblichen Teearbeiter sind sogenannte Adivasi, ein Sammelbegriff für verschiedene Gruppe von indigenen Völkern. Sie wurden unter britischer Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert mit dem Versprechen auf ein besseres Leben nach Assam gelockt. Die lokale Bevölkerung weigerte sich, für die Besetzer zu arbeiten. Gleich zu Beginn starben Tausende beim Roden des Dschungels für die Plantagen. Die Ausbeutung dauert bis heute an: Sie gelten nicht als "sons of the soil" und sind oft Opfer von Diskriminierung.
Adivasi nach Assam gelockt
Das Plantagenarbeitsgesetz (Plantation Labour Act) von 1951 regelt eigentlich detailliert ihre Rechte. Dazu gehören etwa Kindertagesstätten, angemessene Unterkünfte, Schulen, Sicherheitsstandards oder medizinische Versorgung. Die Arbeitszeit wäre mit 48 Stunden pro Woche geregelt. Doch Papier ist geduldig.
Absatz 24 des Gesetzes besagt zudem, dass Arbeit unter zwölf Jahren verboten ist. Aber zu einer Uhrzeit an einem Wochentag, zu der Kinder in der Schule sein sollten, sind viele sehr junge Mädchen und Buben auf der Plantage der indischen Firma zu sehen. Neha gibt etwa an, dass sie zehn ist. Sie arbeite bereits, seit sie sechs ist: "In der Schule war ich nie." Kusum ein Stück weiter ist zwölf Jahre alt. Ihr kindliches Gesicht lässt sie noch jünger wirken. Ihre Mutter räumt zunächst ein, dass das Mädchen nur ausnahmsweise aushilft. Später sagt sie, dass Kusum sowieso keine Lust mehr auf Schule habe. "Ich lerne schlecht. Was ich im Unterricht höre, geht nicht in meinen Kopf rein", sagt Kusum schüchtern.
Provisorische Hütten
Ein 15-Jähriger will seinen Namen nicht nennen. Er pflückt nur mit der rechten Hand – dafür doppelt so schnell. Seine linke Hand ist von Geburt an gelähmt. In der Mittagspause zeigt er sein Zuhause her, das rund zehn Gehminuten entfernt liegt. Die Siedlung wird vom Seconee Tea Estate zur Verfügung gestellt. Die gesetzlichen Mindestanforderungen können damit wohl kaum erfüllt werden. Die Hütten sind provisorisch aus Wellblech und Ästen gezimmert. Die Straßen bestehen aus Lehm und Sand. Es gibt keine Spielplätze. Die Jüngsten sitzen zwischen Ziegenkot und Abfall. Es gibt keine Kanalisation. Es riecht nach Kot und süßlich nach Verwesung.
Dutzende Menschen teilen sich eine Toilette, die nur ein Loch im Boden ist, das von schwarzen Plastikplanen notdürftig verdeckt wird. Das sogenannte Krankenhaus ist ein Zimmer mit Holzpritsche. Ärzte sind hier nie. In einer Ecke liegen gebrauchte Spritzen. Damit werden die Menschen etwa gegen Hepatitis A geimpft, erklärt ein Dorfbewohner. Die Nadeln werden mit heißem Wasser abgespült und wiederverwendet.
Tuberkulose oder Malaria sind Alltag
Nahe dem Slum gibt es eine Schule für Kinder der Unterstufe. Eine höhere Schule ist zehn Kilometer entfernt. Eine Distanz, die die meisten Jugendlichen vom Besuch abhält. Denn auf der Plantage brauchen die Eltern ihre Hilfe.
Die Situation der Teearbeiter erklärt, warum Menschenhändler ein leichtes Spiel haben. Denn ohne Bildung können die Adivasi keine anderen Jobs annehmen. Sie sind eingesperrt im Kosmos der Teegärten, ohne Aussicht auf ein besseres Leben für sich oder ihre Kinder. Tuberkulose, Malaria und Krebs vom Pestizidespritzen ohne Schutzkleidung sind Alltag.
Mädchen zwangsprostituiert
"Heiratsagenturen" – getarnte Menschenhändlerringe – suchen vor allem nach jungen Mädchen. Gut bezahlte Arbeit wird versprochen: Zwangsprostitution und -heirat, meist mit älteren Männern, ist jedoch oft die Realität.
Die Legal Cell for Human Rights (LCHR) setzt auf Aufklärung: Pater Ravi Sagar und sein Team an Juristen bilden Rechtslaien aus, die Adivasi über ihre Rechte informieren und ihnen helfen, sie umzusetzen. Die Organisation hat mit 500 Ehrenamtlichen bereits 14.000 Arbeiter erreicht. Ein erster Schritt gegen sklavenähnliche Lebensbedingungen. Die österreichische Dreikönigsaktion unterstützt diese Initiative.
Die Arbeit ist riskant, wie Rinku Parida erzählt. Die rechte Gesichtshälfte des 29-Jährigen ist vernarbt. Er wurde im September von Unbekannten geschlagen, mit Benzin übergossen und angezündet. Der Regen hat sein Leben gerettet. Parida kämpft auch gegen den Mädchenhandel. Er befreite ein 14-jähriges Mädchen, das zur Sexarbeit gezwungen wurde und nun wieder zu Hause ist. Aus den wenigen Erfolgen schöpfe er Kraft. (Julia Schilly aus Assam, 27.12.2015)