Um einen zeitgenössischen Zugang zu Sigmund Freund bemühen sich aktuell feministische Psychoanalytikerinnen. Im Bild: Andy Warhols "Sigmund Freud", der 2012 im Jüdischen Museum Wien zu sehen war.

Foto: The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts.Inc. / Courtesy Ronald Feldman Fine Arts, New York

Esther Hutfless ist Psychoanalytikerin und Philosophin.

Foto: Elisabeth Schäfer

Wien – Aufgewachsen bei Zieheltern, tötet Ödipus als junger Mann unwissentlich seinen leiblichen Vater und nimmt seine eigene Mutter zur Frau. Als er die Zusammenhänge erkennt, sticht er sich vor Scham die Augen aus und flieht ins Exil. Diese Figur der griechischen Mythologie ist zentral mit einer Lehre verbunden, die wie kaum eine andere als typisch wienerisch gilt: der Psychoanalyse. Ihr geistiger Vater Sigmund Freud machte den Ödipuskomplex zu einem Kernkonzept seiner Theorie, um die Ambivalenz der Gefühle eines Kindes zu beschreiben, die es gegenüber seinen Eltern empfindet.

Am Beginn seiner universitären Laufbahn wies zunächst noch nichts auf das hin, was später zu einer der radikalsten Theorien werden sollte, die je in Wien entstanden sind. Der 1856 in Freiberg, Mähren, geborene Freud immatrikulierte sich 1873 an der Uni Wien für das Studium der Medizin und promovierte 1881 mit der Dissertation Über das Rückenmark niederer Fischarten. Später trat er eine Stelle im Wiener Allgemeinen Krankenhaus an, forschte zu Gehirnanatomie und experimentierte mit Kokain. 1896 verwendete Freud zum ersten Mal den Begriff Psychoanalyse für die Behandlungsmethode, die er zunächst mit dem Arzt Josef Breuer entwickelte.

Auf der Couch

Patienten werden angehalten, die Traumatisierungen, die hinter ihren Symptomen stehen, aufzuspüren und auszusprechen, ohne auf Selbstzensur und Schamgefühle Rücksicht zu nehmen. Essenzielles Möbelstück der Praxis: die Couch; Freud hatte sie von einer Patientin geschenkt bekommen. Neben der freien Assoziation wurde die Deutung von Träumen zur zentralen Technik der Psychoanalyse. Im November 1899 erschien dazu Freuds frühes Hauptwerk Die Traumdeutung. In diesem Werk beschreibt er Träume als Schlüssel zum Unbewussten: "Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben."

1891 bezog Freud mit seiner Familie die Wohnung in der Berggasse 19, wo er 47 Jahre wohnte und arbeitete. 1971 wurde dort das Sigmund-Freud-Museum eröffnet, in dem derzeit eine Schau zu Frauen in der Psychoanalyse zu sehen ist. Der Großteil von Freuds Büchern und Möbeln, wie die berühmte Couch, befindet sich heute im Freud Museum London, seiner Exilwohnung, in der er von 1938 bis zu seinem Tod 1939 lebte.

Mit seiner Alma Mater verband Freud eine ambivalente Beziehung: Erst 1920 wurde er zum ordentlichen Professor der Uni Wien ernannt, mit dem auflodernden Antisemitismus wurde sie ihm zunehmend verhasst. Der Historiker Friedrich Engel-Jánosi schrieb in seinen Erinnerungen über Freud: "Als ich Freud zur Universitätsfeier anlässlich des 70. Geburtstags von (Alfred Francis) Pribram einlud, schrieb er mir, dass er seinen Freund an dessen Fest zu finden wissen werde, dass er aber niemals in seinem Leben den Boden der Wiener Universität wieder betreten werde." Das war 1929.

Heute verweist zwar ein Denkmal im Arkadenhof auf Freuds Lehrtätigkeit von 1885 bis 1934 an der Uni Wien, doch in der Lehre ist die Psychoanalyse inzwischen in den Hintergrund getreten: Im laufenden Semester gibt es gerade einmal sieben Lehrveranstaltungen zu Psychoanalyse. In einem wählbaren Erweiterungscurriculum können sich Studierende in Psychoanalyse vertiefen, allerdings dürfte es für die meisten Psychologiestudenten ohne weiteres möglich sein, abzuschließen, ohne einen Text von Freud gelesen zu haben.

Damals wie heute ist die Psychologie diversen Angriffen ausgesetzt, und die aktuelle Forschung ist stark fragmentiert. Einer der spannendsten Ansätze in Wien geht von drei Psychoanalytikerinnen aus, die der feministischen Theorie nahestehen: Im seit einem Jahr bestehenden Projekt Queering Psychoanalysis versuchen Esther Hutfless, Anke Müller Morocutti und Barbara Zach, die Psychoanalyse mit aktuellen Konzepten der Queer-Theory zusammenzuführen, die sich um eine kritische Perspektive auf Geschlechter und Sexualitäten bemüht. In einem Blog kommentiert das Kollektiv aktuelle Debatten, derzeit ist ein Sammelband in Arbeit.

Hutfless, die am Institut für Philosophie der Uni Wien unterrichtet, spricht von einem "schwierigen Verhältnis" zwischen Psychoanalyse und queeren Lebensweisen mit beidseitigen Vorurteilen. Obwohl mittlerweile meist auch Homosexuelle in die psychoanalytische Ausbildung aufgenommen werden, sind Homo-, Bi- oder Transsexualität in der Psychoanalyse kaum Thema und werden eher pathologisiert. Freud hat sich ambivalent zur Homosexualität geäußert. "Viele potenziell an der Psychoanalyse Interessierte fühlen sich aus Angst vor Diskriminierung abgeschreckt", sagt Hutfless.

In aktuellen Debatten zu Geschlechtsidentitäten und sexuellem Begehren würde die Psychoanalyse kaum mehr als adäquater Zugang wahrgenommen werden – obwohl sie diesbezüglich einmal die progressivste Theorie war. Die beiden Theorien verbinden nicht nur ähnliche Fragestellungen zu Identität, Subjekt, Geschlecht, sie teilen auch Anfeindungen von außen, wie diejenige, nicht wissenschaftlich zu sein.

Undogmatischer Denker

So wird der Queer-Theory vorgeworfen, sie sei politisch-ideologisch motiviert, der Psychoanalyse sagt man fehlende Reproduzierbarkeit nach. Hutfless: "Es wird immer wieder behauptet, dass die Psychoanalyse ihre Erfolge nicht nachweisen kann, dabei gibt es viele Langzeitstudien, die ihr bei schwerwiegenden Persönlichkeitsstörungen eine deutlich bessere Langzeitwirkung attestieren als anderen Therapieformen."

Außerdem leide die Psychoanalyse daran, dass in einer schnelllebigen Zeit nach raschen therapeutischen Lösungen gerufen werde. "Die langandauernde Auseinandersetzung mit sich selbst stellt sich gegen das Diktum, stets arbeits- und einsatzbereit sein zu müssen", sagt Hutfless. Mit dem Begriff Queering Psychoanalysis verfolgt das Forschungskollektiv die Idee, die Logik des "Normalen" und die Entgegensetzung von "normal" und "pathologisch" kritisch zu hinterfragen.

Was Hutfless besonders an Freud schätzt, sind "seine undogmatische Art und sein Vermögen, sich nicht zu schade zu sein, immer wieder Behauptungen, die er selbst aufgestellt hat, zu hinterfragen und mitunter umzuwerfen". In seinem Denken sei er seiner Zeit weit voraus und "sehr radikal" gewesen. Das trifft sich mit einer Selbsteinschätzung Freuds, der sagte, es sei sein Schicksal, "am Schlaf der Welt zu rühren". (Tanja Traxler, 23.12.2015)