Vor ein paar Wochen rollten im Internet die Tränen. Und niemand konnte, niemand wollte wegsehen. Die Australierin Essena O'Neill, schön, blond, braungebrannt und mit ihren 19 schon ein Instagram-Star, erklärte, sie habe genug. Genug von ihren eigenen Inszenierungen auf Instagram, von der mühsamen Millimeterarbeit, die nach Sexiness und nach Erfolg im Schnappschussverfahren aussehen sollte: die Yoga-Posen am Sandstrand, der stramme kleine Körper im knappen Bikini, die dazwischengeschobenen Product Placements. Unter Tränen entlarvte die 19-jährige auf Youtube die Social-Media-Welt: alles fake und alles Plastik. Besser hätte kein Marketingunternehmen ihren Ausstieg planen können. Essena O'Neills Video traf 2015 dieses diffuse Bedürfnis nach der ungeschminkten Wahrheit.

Essena O'Neill über die Social-Media-Welt.
Essena O'Neil

Mit dem Versprechen des Echten, des Authentischen, des Ungeschönten gelang auch dem Designer Demna Gvasalia einer der spektakulärsten Coups im Modebusiness. Erst inszenierte er sich in Paris mit den trotzigen Entwürfen seines Labels "Vetements" als Kopf eines von der Industrie genervten Modekollektivs, dann wurde er im Oktober dem Modehaus Balenciaga einverleibt. Sein Schlachtruf: Mode ist ganz sicher nicht zum Träumen da, Mode soll ganz einfach nur getragen werden.

Denn 2015 war das Jahr, in dem in den Kampagnen den falschen Versprechungen werbewirksam die Stirn geboten wurde. Das ist natürlich alles andere als neu, zieht aber noch immer. Porenfreie Modelgesichter, photogeshopte Schönheiten? Machen alle. Auffallen ging 2015 anders. Die Online-Shoppingplattform Farfetch zeigte in seiner Kampagne #unfollow lieber langweilige Rückenansichten.

Und die Fotografin Petra Collins? Schwimmt gerade auf einer Welle des Erfolgs, weil sie Pickel und Schamhaare nicht wegretuschiert. Instagram hat deshalb vor zwei Jahren schon mal ihren Account gesperrt. Das hat Collins einige Aufmerksamkeit verschafft. Und so mögen mittlerweile auch Unternehmen ihren veträumten Mädchenkitsch, der dem dünnen weißen Kate-Moss-Ideal der Neunziger eine Absage erteilt: zum Beispiel das Unterwäschelabel It's Me and You oder die US-"Elle", für die sie im Sommer eine etwas andere Calvin-Klein-Strecke aufstellte.

Petra Collins: "It's Me and You"-Label-Kampagne.
Petra Collins für "Elle" USA.

Sogar das propere kalifornische Label Esprit, das in den letzten Jahren eine Identitätskrise durchmachte, ließ sich von diesem Virus anstecken. Nicht Perfektion sei sexy, sondern ja ja, Authentizität. "Sei einfach du selbst", die Message der Kampagne #imperfect entpuppte sich als zahnloses Blabla. Da konnten auch Modebloggerinnen wie Leandra Medine vom New Yorker Blog Manrepeller, die in die Kampagne eingebunden wurden, nichts mehr ausrichten.

Man Repeller

Auch die aktuellen Unterwäsche-Fotos für den H&M-Ableger "& Other Stories" setzen das Achselhaar mittlerweile so routiniert ein, dass es wohl bald keiner Erwähnung mehr bedarf. Erst dann wird sich zeigen, ob das Unrasierte, Ungeschminkte auch die Nichtbeachtung überlebt. (Anne Feldkamp, 22.12.2015)