Eine Kandidatin, die nicht aus der rot-schwarzen Nomenklatura stammt und trotzdem Chancen hat: Im Sinne demokratischer Vielfalt ist Irmgard Griss' Bewerbung um das Präsidentenamt erfreulich. Die Exrichterin weiß, dass das Image der unverbrauchten Antipolitikerin ihr Atout ist; entsprechend hoch legt sie die moralische Latte. Mit "Ehrlichkeit" und "Mut" propagiert sie Werte, die Berufspolitikern gerne abgesprochen werden.

Allerdings ließ Griss gerade in der Woche, in der sie ihre Kandidatur verkündete, Zweifel an den beanspruchten Tugenden aufkommen. Weder ehrlich noch mutig wirkten manche Antworten bei jenem Hearing, zu dem sie die FPÖ geladen hatte. Ob Griss denn für eine Vertiefung der Europäischen Union steht oder den freiheitlichen Ruf nach einer Renaissance der Nationalstaaten unterstützt? Statt einen klaren Standpunkt zu beziehen, zog sich die Juristin, angeblich "glühende Europäerin", auf ein vages Einerseits-andererseits zurück. Vielleicht wollte Griss die potenziellen Unterstützer nicht verprellen, vielleicht fehlt es ihr an politischem Fundament – beide Möglichkeiten sind keine Empfehlung für die Wahl zum Staatsoberhaupt.

Der Auftritt war durchaus symptomatisch. Griss spricht zwar viel über Stilfragen, inhaltlich argumentiert sie aber oft unverbindlich bis seicht. Der Beweis, dass die Außenseiterin das Format zur "moralischen Instanz" (Griss) hat, steht noch aus: Die Pose der Anstandsdame ist zu wenig. (Gerald John, 18.12.2015)