Leidenschaft sollte nicht als Muss präsentiert werden, sagt Volker Kitz. Beruf müsse nicht Berufung sein.

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Leidenschaft wird heutzutage oft als ultimativer Erfolgsfaktor angepriesen, Glück bei der Arbeit ermögliche Glück im Leben überhaupt erst. Geschichten von beruflichen Wechseln werden fleißig erzählt und gern gehört, beispielsweise die des Schweizer Herzchirurgen, der im Alter von 56 Jahren plötzlich seine Leidenschaft fürs Lkw-Fahren erkennt. Er macht den Lkw-Führerschein, kündigt seinen Job in der Ambulanz und fährt seitdem seinen mit mehr als 15 Tonnen beladenen Truck quer durch Europa.

Dass viele dieser Geschichten realitätsfern seien, werde bei ihrer genaueren Betrachtung schnell deutlich, schreibt Volker Kitz – Buchautor und Redner zu den Themen Psychologie und Arbeit – im Magazin "Spiegel". "Die Masse der Gesellschaft besteht nicht aus berühmten Herzchirurgen, sondern aus Lkw-Fahrern", sagt er. Die meisten Berufstätigen – seien es Bankangestellte, Krankenschwestern oder Arbeiter – könnten ihren Job nicht einfach wechseln "wie ein Profilfoto auf Facebook".

Verpflichtungen, die hindern

Grund können nicht nur mangelnde Qualifikation, sondern auch diverse Verpflichtungen sein. Ein Haus, ein Auto, Kinder. Dem Manager, der von einer eigenen Surfschule träumt, zu raten, diese ohne Rücksicht auf Verluste auch aufzumachen, helfe diesem meist ebenso wenig weiter wie seiner Sekretärin, schreibt Kitz. "Auch das Alter ist nicht ganz so egal, wie es beim 56-jährigen Herzchirurgenbrummifahrer scheint: was, wenn sein Kindheitstraum Profifußballer gewesen wäre?"

Solche vermeintlich inspirierenden Geschichten würden letztlich eher Schaden anrichten als Positives auslösen. "Sie suggerieren, dass niemand sich im Arbeitsleben mit weniger als dem makellosen Glück zufriedengeben dürfte. Dass jeder etwas ändern muss, der seinen Job nicht mit bis an Besinnungslosigkeit grenzender Leidenschaft ausübt." Über Generationen habe dieser Druck, im Beruf maximale Erfüllung zu finden, eher Unglücklichsein befördert, schreibt Kitz: "Millionen Menschen sitzen jeden Tag im Büro, stehen am Fließband oder kriechen für ihren Job auf dem Boden herum und fragen sich: 'Was läuft falsch bei mir, wenn ich dabei keine Leidenschaft verspüre?' Sie suchen, grübeln und trauern, weil in ihrem Leben offenbar 'etwas nicht stimmt'."

Leidenschaft vs. Gründlichkeit

Außerdem: Gründliche, gewissenhafte Arbeit würde selten durch Leidenschaft hervorgebracht, weil die Distanz fehle. "Ein nüchterner Kopf liefert bessere Ergebnisse als ein leidenschaftstrunkener. Und wer zu sehr in seine Arbeit vernarrt ist, wird kaum nach Möglichkeiten suchen, dasselbe Ergebnis mit weniger Arbeitsschritten hinzubekommen, also: effizienter zu sein." Aus diesem Grund würden sich auch Rechtsanwälte in wichtigen Angelegenheiten nicht selbst vertreten.

Natürlich habe er nichts gegen Menschen, die glücklich mit ihrer Arbeit sind, stellt Kitz fest. "Wir freuen uns von Herzen über jeden Chirurgen, der seinen Kindheitstraum verwirklicht." Wichtig sei lediglich, dass diese Beispiele nicht als "normal" vorgeführt werden. Außerdem könne das Leben in vielen Bereichen Erfüllung bieten, sei es durch Freunde, Familie oder Hobbys. Für die Arbeit gebe es aus gutem Grund Geld. "Das ist der Normalfall, und kein Leben läuft schief, wenn es so läuft."

Wer Mitarbeitern nicht vorgaukle, dass Leidenschaft das Wichtigste sei, gewinne deren Respekt – im Fachjargon bezeichnet als "paradoxe Intervention". "Das wäre ein revolutionärer Schritt in der Personalführung", sagt Kitz. "Eine Last wird abfallen, innere Widerstände werden schwinden. Mitarbeiter werden zufriedener und leistungsbereiter zur Arbeit kommen. Menschen motiviert man mit Ehrlichkeit, nicht mit Floskeln." (Lisa Breit, 18.12.2015)