Sydney Padua:
The Thrilling Adventures of Lovelace and Babbage – The (Mostly) True Story of the First Computer
Pantheon 2015
320 Seiten, 29,99 Euro

Padua/Pantheon

Wir befinden uns im viktorianischen London, irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts, in einer Parallelwelt, die nur ein wenig abweicht von der tatsächlichen Vergangenheit. Die Schriftstellerin Marian Evans, besser bekannt unter ihrem Pseudonym George Eliot, trifft fast der Schlag, als sie dabei zusehen muss, wie ihr neuestes Manuskript Buchstabe für Buchstabe zerrissen wird – im wahrsten Sinne des Wortes. Zangen reißen eine Seite nach der anderen aus dem Buch, mechanische Scheren zerschneiden sie in Hochgeschwindigkeit und spucken einzelne Buchstabenfuzeln aus.

Marian Evans hat sich im Inneren der gigantischen "Analytischen Maschine" verirrt, die eigentlich nur eine Rechtschreibprüfung ihres Werkes durchführen soll. Da trifft sie auf die Hohepriesterin des dampfgetriebenen Monstrums: Ada Lovelace, die Pionierin der Computerwissenschaften. Lovelace tröstet die desperate Autorin: "Your words are not destroyed! On the contrary, they are shedding their earthly form! They have become transcendent! They have become DATA!" Um dann mit leuchtenden Augen die "Cloud" vorzuführen, einen Raum im Dachboden der Maschine, in dem zwischen zischenden und ratternden Hebeln die Daten in lange Reihen von Lochkarten gestanzt werden.

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Padua/Pantheon

Das ist nur eine der wilden Geschichten, die die in London lebende Kanadierin Sydney Padua in ihrem außerordentlichen Comic-Band mit dem Titel "The Thrilling Adventures of Lovelace and Babbage – The (Mostly) True Story of the First Computer" serviert. Die Grundprämisse des Buchs: In einer alternativen Wirklichkeit wird die von Charles Babbage und Ada Lovelace nur auf dem Papier konzipierte Analytical Engine – sie gilt als Vorläufer des Computers – tatsächlich gebaut. Und: Ihre Erfinder setzen sie ganz im Sinne klassischer Comic-Helden im Kampf gegen das Böse, das Mittelmäßige und Stupide ein.

Countess und Mathe-Freak

Dabei war schon das echte Leben der beiden alles andere als gewöhnlich, wie das erste Kapitel zeigt. Ada wurde vor fast genau 200 Jahren, am 10. Dezember 1815, als Tochter des Dichters und Womanizers Lord Byron und der evangelikalen Christin und Hobbymathematikerin Anne Isabella Milbanke geboren. Es war keine Beziehung von Dauer. Ada, spätere Countess of Lovelace, wurde von frühester Kindheit an strikt wissenschaftlich erzogen, um bloß keine Fantasie zu entwickeln und schon gar nicht in die poesiegetränkten Fußstapfen des nicht vorhandenen Vaters zu treten.

Sie vertiefte sich immer weiter in die Mathematik, suchte sich ihre Lehrer selbst aus und hoffte, mit ihrem Talent die Fehler ihres Vaters wiedergutmachen zu können. 1833 traf Ada Lovelace auf einer der berühmten Partys der Wissenschaftsautorin Mary Somerville auf den Mathematiker Charles Babbage, den Erfinder der ersten mechanischen Rechenmaschine, der "Differenzmaschine".

Lebenstraum zweier Exzentriker

Lovelace war gerade 18 Jahre, Babbage 42, aber beide verstanden sich auf Anhieb (eine romantische Beziehung sollen die beiden aber nie gehabt haben). Noch im selben Jahr begannen sie mit der Arbeit an der Analytischen Maschine – einer universellen Rechenmaschine, die über Lochkarten bedient werden sollte. Es wurde beider lebensbestimmendes Projekt, um nicht zu sagen: ihr Lebenstraum. Denn es blieb bei der Theorie: Das unförmige Ding, das von einer Dampfmaschine angetrieben werden, aus 55.000 Teilen bestehen und 19 Meter lang und drei Meter hoch werden sollte, wurde nie gebaut. Auch wenn mittlerweile anerkannt ist, dass die Maschine wohl funktioniert hätte und einiges vorweggenommen hat, was erst 100 Jahre später in die Entwicklung des modernen Computers mündete.

Die Zusammenarbeit der beiden Exzentriker gab schon zu ihren Lebzeiten Stoff für allerlei Gossip: Lovelace wird als ungepflegt und schlecht gekleidet, immer mit einer Pfeife im Mund beschrieben, Babbage war als tollpatschiger, egozentrischer und größenwahnsinniger Ungustl verschrien. Beide verband ihr obsessiver Enthusiasmus und ihre Liebe zur höheren Mathematik. Charles Babbage, der in einer Zeitung als der "Frankenstein der Logarithmen" tituliert wurde, publizierte zwar allerhand, aber nie zu seiner Rechenmaschine, die er zuerst in aller Perfektion vollenden wollte.

Padua/Pantheon

Es war Ada Lovelace, die ein Paper des italienischen Ingenieurs Luigi Manebra zu Babbages Analytischer Maschine ins Englische übersetzte. "Sketch of the Analytical Engine" erschien 1843 in der Fachzeitschrift "Scientific Memoirs" und gilt als das erste computerwissenschaftliche Paper überhaupt. Und das deshalb, weil Lovelace, die ja die Rechenmaschine weit besser kannte als Manebra, dessen Aufzeichnungen um ihre eigenen Anmerkungen erweiterte. Wohlgemerkt: Ihre Fußnoten waren dreimal so lang wie der Originaltext. Darin legt Lovelace grundlegende Prinzipien der Computertheorie dar, geht auf die Unterschiede von Hard- und Software ein und spricht erstmals vom Potenzial der Maschine, nicht nur Rechenoperationen durchzuführen, sondern jegliche Art von Informationen zu verarbeiten.

So vielversprechend die Kollaboration der beiden Geek-Prototypen begann, so schnell war der Zauber auch wieder vorüber: Wenige Jahre nach der Publikation erlag Ada Lovelace 36-jährig dem Krebs. Babbage starb mit 79 als verbitterter Mann.

Viktorianisches Paralleluniversum

Mit diesem tragischen Ende wollte sich Sydney Padua nicht abfinden. Normalerweise kreiert sie animierte Monster für große Filmproduktionen. Als sie auf die Geschichte von Lovelace und Babbage stieß, begann sie, quasi als Freizeitvergnügen, ein Webcomic zu zeichnen, das in einer Welt spielt, in der die beiden Computerpioniere zu so etwas wie Steampunk-Ikonen werden. Basierend auf einer intensiven Recherche erschuf Sydney Padua ein viktorianisches Paralleluniversum, in dem sie die absolut kurzweiligen Abenteuer ihrer Helden verankert. Erweitert, überarbeitet und versehen mit dem Layout alter Zeitungscomics, sind die Geschichten 2015 bei Pantheon Books erschienen.

Da treffen Lovelace und Babbage auf die verschiedensten illustren Persönlichkeiten – darunter Charles Dickens, der Logiker George Boole und Isambard Kingdom Brunel, der hyperambitionierte Erbauer des Themse-Tunnels – bis hin zu Queen Victoria höchstselbst. Letztere wohnt einem fulminanten ersten Computercrash bei. Nebenbei tauchen die Leser ein in die High Society des viktorianischen Englands, ihre Skandale und ihre Netzwerke inklusive der Wissenschaftscommunity. Jede einzelne Story ist vollgestopft mit Kuriositäten, Querverweisen, Anspielungen und teils gewagten Konstruktionen.

Foto: Padua

Doch der wahre Clou an der mehr als 300 Seiten starken Hommage sind die Fußnoten. Ganz im Geiste Ada Lovelaces versieht Syndey Padua fast jede Comicseite mit einer Reihe von launigen Anmerkungen mit Fakten aus der (Computer-)Geschichte, Anekdoten und stark ins Abschweifende gleitenden Details jeder Art. Der Lesefluss des Comics wird dadurch ständig unterbrochen, doch das noch so unnütze und noch so absurde Wissen, mit dem die Autorin ihre Geschichten spickt, lässt sich einfach nicht ignorieren – es entpuppt sich immer als liebevoll recherchiert und voller Wunderlichkeiten.

Fußnoten-Overkill

Nichtsdestotrotz sind die Fußnoten einfach viel zu ausufernd. Womit auch Sydney Padua selbstironisch umgeht. In einer Geschichte schickt sie Ada Lovelace Alice-im-Wunderland-mäßig durch eine Welt, die von einem überdimensionalen Fußnotensternchen gerichtet wird. So sehr das alles von Klamauk und Witz getrieben ist – hinter jeder Story stecken wahre Begebenheiten und Begegnungen mit Personen, die wirklich im Leben der beiden eine Rolle spielten.

Alles basiert auf den vorhandenen Dokumenten, Briefen, Erinnerungen von Zeitgenossen und sonstigen Publikationen, die Sydney Padua hauptsächlich auf Google Books gefunden hat, wie sie einräumt. In einem umfangreichen Appendix finden sich dann auch viele Primärquellen – wie etwa ein Brief von Ada Lovelaces Tutor an ihre Mutter über die Gefahren, Frauen Mathematik zu lehren. Darüber hinaus gibt es eine mit Zeichnungen versehene Beschreibung der Funktionsweise der Differenz- und der Analytischen Maschine.

Kombiniert mit einem sehr cartoonesken Zeichenstil, der Ada Lovelace zu einem coolen Supergirl stilisiert, ergibt das eine ziemlich abgedrehte, aber unwiderstehliche Mischung zwischen Comic und Sachbuch – von der man gern mehr nehmen würde! (Karin Krichmayr, 15.12.2015)