Er soll Verantwortung übernehmen und er übernimmt Verantwortung: Enis Murati (27), Kapitän der Leuven Bears in Belgien.

Foto: Leuven Bears/Joke Devliegher

Mit mehr als 16 Punkten im Schnitt ist er fünftbester Scorer der Liga.

Foto: Leuven Bears/Joke Devliegher

Leuven/Wien – "Man hat das Gefühl, dass etwas nicht stimmt", sagt Enis Murati. Lokale Zeitungen kann er noch nicht lesen, aber aus dem Fenster schauen, das kann er. Panzer hat er keine gesehen, die rollten durch Brüssel. Das ist 20 Kilometer entfernt. Murati wohnt und arbeitet im belgischen Leuven, als Basketballprofi. Der Terror von Paris ist noch immer Thema, "aber in Leuven herrschte nur Alarmstufe drei. Auf den Straßen patroulierte kein Militär. Aber es wurden Spiele in der Liga abgesagt."

Enis Murati ist 27 Jahre alt, gebürtiger Kosovare, einen Krieg hat er schon erlebt. Nun hat er sich seinen Traum erfüllt, Leuven ist seine erste "echte" Station als Legionär im Ausland. Im September war Murati noch auf Urlaub in Paris. "Es kann jeden treffen. Man weiß nicht, an welchem Tag, zu welcher Uhrzeit." Seine Freundin ist zu Besuch, sie zögert noch mit dem Umzug aus Österreich nach Belgien.

Von den Leuven Bears wurde Murati nicht einfach nur geholt. Er soll es richten. Der 1,94 Meter große Flügelspieler ist der älteste Spieler und Kapitän der Mannschaft. Das Gesamtpaket passt, "ich wollte aus Österreich raus, mich weiterentwickeln. Belgien ist ein Sprungbrett in die Top- Ligen Europas. Es ist ein kleines Land, Auswärtsspiele sind keine Tagesausflüge. Ich habe viel Verantwortung, das taugt mir", sagt Murati.

Eine Oase des Sports

In der österreichischen Bundesliga (ABL) spielte Murati neun Jahre für Gmunden, er wurde behutsam zu einem der besten Spieler Österreichs aufgebaut. Unter dem Strich standen immerhin zwei gewonnene Meistertitel, aber auch drei verlorene Finalserien. Der Verein in Leuven ist ähnlich familiär geführt wie jener in Gmunden, nur in einer anderen Größendimension. Es gibt mehr Nachwuchsarbeit, mehr Talente, mehr Hallen. Die Coaches haben eigene Büros, die Physiotherapeuten sind Vollzeit-Angestellte, rund um die Uhr verfügbar. Was man halt so braucht, um professionell arbeiten zu können. In die "SportOase", die Heimhalle der Bären, passen 3500 Zuschauer. "Es kommen aber nie so viele, weil wir leider viel verlieren.

"Die belgische "Scooore-League" ist bis dato kein Zuckerschlecken für Murati. Die Bilanz: Ein Sieg, sieben Niederlagen. Die ersten fünf Partien wurden am Stück verloren. An die Topteams aus Ostende oder Chalerloi riecht man nicht heran. Coach Tom Johnson (ehemals Oberwart), der sich für Muratis Verpflichtung stark machte, wurde nach dem Fehlstart entlassen. "Es bleibt schwer, uns fehlt Routine." Murati kommt auf 16.4 Punkte im Schnitt pro Partie, ist damit fünftbester Scorer der Liga. Er würde aber so manchen Punkt gegen Siege für die Mannschaft eintauschen. "Ich gebe mein Bestes, um dem Team zu helfen."

Basketball statt Bomben

Mit sechs Jahren ist Enis Murati mit seiner Famile aus Pristina vor dem Kosovo-Krieg und den NATO-Bombenangriffen geflohen, die Familie musste alles zurücklassen. Ihr Glück war eine Ferienwohnung an der Meeresküste von Montenegro. Vier Jahre später ging es 900 Kilometer nördlich ins serbische Subotica. "Um seine serbische Pension in Anspruch nehmen zu können, musste mein Opa auch in Serbien leben. Wir brauchten sein Einkommen. Meine Eltern sind geschieden, meine Mutter hatte nach der Flucht keinen Job mehr."

In Subotica lernte Enis Basketballspielen, es war alternativlos. Es gab keine Handys, keine iPads. "Wir waren dauernd draußen und haben uns bewegt." Das Training mit Älteren und die bekanntermaßen strenge serbische Basketballschule taten ihr übriges. "Wenn man Talent hat, wird man dort auch extrem gefördert."

Mit 17 kam Murati zu seinem Onkel auf Besuch nach Linz. Österreich wurde seine Heimat. Ein Studium wollte er beginnen und sich das im Idealfall mit Basketball finanzieren. Geographisch nächstgelegener Verein wäre Wels gewesen. Murati rief beim Verein an, doch niemand hob ab. Der nächste Versuch galt den Schwänen in Gmunden. Dort ging jemand ans Telefon. Ein örtlicher Gymnasialprofessor, Walter Janisch, nahm Murati bei sich und seiner Familie auf, erleichterte ihm den Einstieg ins Leben am Traunsee. "Mein größtes Glück? Dass mir so viele unglaubliche, tolle Menschen geholfen haben."

Ein heißer Sommer

Die Gmundner hatten Murati in ihr Herz geschlossen, grüßten ihn beim Einkaufen, beim Wirten. Die Studentenstadt Leuven hat knapp 100.000 Einwohner, auf der Straße wird er nicht erkannt, "was mich aber gar nicht stört." Die Belgier sind verrückt nach Fußball, das Nationalteam führt die Fifa-Weltrangliste an, aber auch nach Radfahren. In Leuven prägen die Drahtesel das Straßenbild. Das belgische TV überträgt auch Basketball – "Skifahren gibt es hier ja nicht." Murati wohnt nahe der Halle, das zweite tägliche Training findet oft schon um 16 Uhr statt. Danach ist Feierabend.

Österreichs Liga verfolgt Enis Murati weiterhin, sie ist vom Niveau um einiges schwächer geworden als in den Vorjahren. "Die besten vier Teams könnten aber in Belgien mithalten." Sieben Jahre hat es gedauert, bis Murati die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Neben seinem Profidasein hat er in Salzburg ein Bachelor-Studium in Biologie abgeschlossen, "das war eine sehr harte Zeit". Im Sommer 2014 folgte der erste große Auftritt für das Nationalteam. Gegen Deutschland läuft Murati in der EM-Qualifikation in Schwechat heiß, trifft fast jeden Wurf, macht 27 Punkte. Die ÖBV-Auswahl schenkt das Spiel in den Schlussminuten her, zurück bleibt Wehmut und der Gedanke, dass "der Gegner auch nur mit Wasser kocht".

Die EM 2015 wurde knapp verpasst. Die letzte erfolgreiche Qualifikation liegt 40 Jahre zurück. Eine Handvoll Legionäre gibt aber Hoffnung. Zu Jakob Pöltl (NBA-Talent in Utah), Thomas Schreiner (Spanien), Rasid Mahalbasic (Russland) und Benjamin Ortner (Italien) gesellt sich nun auch Enis Murati. Ein gutes Gefühl. "Ich möchte diesen Traum einfach weiterträumen." (Florian Vetter, 6.12.2015)