Doc Karl untersucht am Hauptbahnhof einen Flüchtling: "Die Krise hat gezeigt, dass die ausgehöhlten öffentlichen Strukturen ausgedient haben."

Wien – Jawids Bein ist von Wunden übersät, sie sehen aus wie feuerrote Krater. Irgendetwas habe ihn auf seinem dreitägigen Marsch durch die Wüste gebissen, erzählt der Teenager. In der Nacht war er über die iranisch-türkische Grenze geschlichen, im Rücken hörte Jawid Schüsse. Von den 100 Flüchtlingen im Tross seien nur acht dem Arrest – und damit der drohenden Abschiebung nach Afghanistan – entkommen.

Nun sitzt der Bursche in einem zwischen blank polierten Bürotürmen und dem Wiener Hauptbahnhof eingeklemmten Baucontainer. Metallzäune, notdürftig mit blauen Plastikplanen verhängt, unterteilen den Raum, die Pappkartons und Steigen in den Regalen tragen Aufschriften wie "Schleimlöser", "Herz-Kreislauf" oder "Grippe". Jawid entblößt sein geschwollenes Bein, dem Sanitäter reicht ein kurzer Blick: "Parasiten".

Gratis Arbeit mit gespendeten Medikamenten

Routine haben die Helfer genug aufgebaut. Was vor dreieinhalb Monaten mit dem Bandagieren von wund marschierten Füßen begonnen hat, wuchs sich mit dem Flüchtlingsandrang zu einer permanenten "First Aid"-Station aus, die in das Flüchtlingshilfsprojekt "Train of Hope" am Hauptbahnhof integriert ist. Neben ihren Jobs in Spitälern und Praxen behandeln Ärzte und Pfleger hier Flüchtlinge, freiwillig und ohne Bezahlung. Die Medikamente stammen aus Spenden und von der Wiener Berufsrettung.

Eigentlich sollten die Patienten längst abhandengekommen sein, denn derzeit reisen nur mehr wenige Transitflüchtlinge, für die das Angebot abseits der Notfallversorgung im Spital gedacht war, durch Österreich. Doch zu tun gibt es immer noch, sagt eine Aktivistin, die Krankenschwester Madeleine Auer: "Zu 80 Prozent behandeln wir nun eben Menschen, die bei uns Asyl beantragt haben."

Asylwerber auf später vertröstet

Asylwerber haben laut Innenministerium an sich ab Zeitpunkt ihres Antrags Zugang zum normalen Gesundheitssystem, doch das hat sich offenbar nicht bis in alle Winkel der Behörde herumgesprochen. Dem STANDARD liegt ein Schreiben der Landespolizeidirektion an einen Asylwerber vor, der Mitte November seinen Antrag gestellt hat. Ein Recht auf Krankenversicherung bestehe erst ab der Erstbefragung Ende Jänner, wurde dem Mann beschieden.

Eine missverständliche Auskunft, heißt es dazu auf Anfrage im Innenministerium: Das Formular werde umgehend geändert.

Bürokratische Hürden

In der Gemeinde Wien verweist man auf die eigene Servicekarte, die den Zugang ins Gesundheitssystem garantieren soll, und seit Mitte Oktober an jeden Asylwerber ausgehändigt werde. Vollständig sei die Verbreitung jedoch noch nicht, heißt es im Büro des Wiener Flüchtlingskoordinators, etwa weil sich Zuzügler aus den Ländern nicht in der Stadt registrieren ließen. Um alle Lücken zu schließen, klappere man deshalb die Flüchtlingsquartiere ab.

Das tun auch Thomas Wochele-Thoma und die mobile Einsatztruppe von der Initiative "Medical Aid for Refugees", in der sich ehrenamtliche Helfer zusammengeschlossen haben. "Viele Asylwerber finden trotz Anspruchs keinen Zugang ins Gesundheitssystem", berichtet der ärztliche Leiter der Caritas, da gebe es grobe Abwicklungsprobleme und bürokratische Hürden: "Flüchtlinge haben keine Informationen oder können mit diesen nichts anfangen."

Zivilgesellschaft kann nicht ewig einspringen

Die Hilfsstation am Hauptbahnhof verlangt keine Nachweise. Nicht einmal einen Namen gibt ein Mittvierziger aus Afghanistan an, der zur Krankenliege humpelt. Ein graubärtiger Arzt, den ein Namensschild als "Doc Karl" ausweist, bewegt das Bein auf und ab – und identifiziert das Problem an ganz anderer Stelle: Zahnentzündung, neben Verkühlungen, Durchfall und Fußverletzungen ein Standardleiden unter Flüchtlingen.

Beim Einsatz für die Flüchtlinge sei die Liebe zur ärztlichen Berufung wieder aufgeflammt, sagt der pensionierte Arzt, fügt aber einen bitteren Befund an: "Eines hat die Flüchtlingskrise gezeigt: Die ausgehöhlten öffentlichen Strukturen haben ausgedient."

Dieser Tage wird jene freiwillige Arbeit, die den Staat entlastet hat, gewürdigt: Heute, Samstag, ist internationaler Tag des Ehrenamts, am kommenden Freitag erhält "Train of Hope" den Menschenrechtspreis. Da der große Flüchtlingsandrang erst einmal vorbei ist, wird das Angebot am Bahnhof zurückgefahren und die Krankenstation in absehbarer Zeit wohl geschlossen – in der Hoffnung, dass die öffentliche Hand künftig wirklich jeden auffängt. "Die Zivilgesellschaft kann nicht ewig einspringen", sagt die Aktivistin Auer: "Alle sind erschöpft." (Gerald John, 5.12.2015)