Innenministerin Johanna Mikl-Leitner forderte vor dem Treffen der EU-Innenminister eine "Reduktion der Migrationsströme". EU-Ratspräsident Donald Tusk verlangt im Grunde dasselbe: Niemand sei bereit, "diese hohen Zahlen aufzunehmen, Deutschland eingeschlossen".

Im Zentralorgan des deutschen Liberalismus, der Zeit, fordert Chefreakteur Giovanni di Lorenzo auf Seite eins: "Wir brauchen jetzt schnell ein Zeichen der Begrenzung, ein deutliches Signal in die Herkunftsländer der Flüchtlinge (...) Setzen wir dieses Zeichen nicht, wird sich die politische Auseinandersetzung weiter radikalisieren, die Lage der Flüchtlinge bei uns wird sich verschlechtern, und eine fähige und anerkannte Kanzlerin wird möglicherweise bis zur Machtlosigkeit demontiert werden."

Jedes Wort davon kann man unterschreiben, gerade dann, wenn man für einen humanen Umgang mit Kriegsflüchtlingen ist. Der gesellschaftliche Frieden ist in Gefahr. In Deutschland gibt es fast jeden Tag einen Anschlag auf eine Asylwerberunterkunft, die Pegida wächst sich zu einer immer gewaltbereiteren "völkischen Bewegung" (FAZ) aus. In Österreich kommt es (noch?) kaum zu Gewaltaktionen, denn Gegner der Flüchtlingspolitik haben das Ventil einer starken fremdenfeindlichen Parlamentspartei (übrigens: Die Idee, die Kosten für Flüchtlinge mit einer Vermögenssteuer zu finanzieren, wäre ein Patentrezept, um auch noch die obere Mittelschicht zur FPÖ zu treiben).

Rund eine Million Flüchtlinge werden Ende 2015 nach Deutschland gekommen sein, rund 80.000 bis 100.000 nach Österreich. Derselbe Zustrom im nächsten Jahr würde höchst ungute Reaktionen auslösen.

Statusbericht: Die Ströme versiegen derzeit. An unserer südlichen Grenze, im steirischen Spielfeld, kommen nun statt täglich mehrere Tausend nur noch mehrere Hundert an. Das liegt daran, dass "weiter unten" auf der Balkan- und Ägäisroute "zugemacht" wurde. Mazedonien lässt nur noch Syrer, Iraker und Afghanen aus Griechenland herein, Iraner, Somalis, andere Afrikaner müssen im Schnee kampieren. Der Rückstau reicht nach Griechenland, aber auch dort gibt es eine gewisse Entspannung. Es kommen weniger aus der Türkei über die Ägäis, erstens wegen des Winterwetters, zweitens – bedeutsamer -, weil die Türkei plötzlich entdeckt hat, dass man die Schleppermafia, die bisher unter den Augen der Polizei die Schlauchboote losschickte, auch stoppen kann. Noch bedeutsamer: Die türkische Grenze zu Syrien wird offenbar geschlossen. All das wird wohl etwas mit dem Abkommen mit der EU zu tun haben: Geld gegen die Zurückhaltung der Flüchtlinge.

Und es findet eine Differenzierung der Flüchtlinge statt. Aussicht auf Asyl haben bald nur noch Syrer und Iraker, weil bei ihnen Krieg herrscht. Deutschland will bald schon auch die Afghanen abweisen, andere ohnehin.

Das ist, realistisch betrachtet, die Verurteilung vieler Zehntausend oder Hunderttausend Menschen zum Bleiben in extrem gefährlichen und belastenden Verhältnissen. Der Krieg jeder gegen jeden in Syrien und Irak wird den zum Bleiben gezwungenen Menschen das Leben noch mehr zur Hölle machen.

Dennoch, die "Migrationsströme" werden derzeit gestoppt, wenngleich vielleicht nur temporär. Eine endgültige Lösung – Ruhe im Kriegsgebiet – ist nicht in Sicht. Inzwischen haben wir alle Hände voll zu tun, den bisherigen Anfall zu bewältigen. (Hans Rauscher, 4.12.2015)