Unverbrüchlicher Glaube an Le Pen: "Marine rettet Frankreich" steht auf dem Spruchband, auf das man in Brachay am Oberlauf der Marne stolz ist.

Foto: Stefan Brändle

Bürgermeister Marchand vor dem Rathaus: "Ich bin kein Rassist."

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Ihren Namen will die Kellnerin lieber nicht in der Zeitung sehen. Schließlich arbeitet sie in der einzigen Dorfkneipe weit und breit, hier im ländlichen Département Haute-Marne, und bedient täglich die Einheimischen. Dafür sagt sie rundheraus, was sie von ihnen hält: Mit denen sei nicht gut Kirschen essen. Es seien Hinterwäldler, Rückständige, für die selbst sie eine Ausländerin sei, weil sie aus Paris stamme.

Verloren hinter dem Wald

Nach dieser kleinen Einstimmung ist die Fahrt durch ein schmuckloses Tal nur noch ein paar Kilometer lang. Zuerst taucht eine Badewanne auf der Kuhweide auf, dann folgt das Dorf. Brachay. Kein schöner Name. Das verlorene Nest hinter dem Wald ist bekannt geworden, weil vor drei Jahren 72 Prozent der Wähler für Front-National-Präsidentin Marine Le Pen stimmten. Das war Landesrekord.

Auf den ersten Blick ist es ein Ort wie jeder andere am Oberlauf der Marne. Man glaubt sich im Herzen Frankreichs und doch irgendwie am Rande der Welt, wo selbst die Zukunft fern scheint. In dem dünn besiedelten Niemandsland schließen die einst bekannten Gießereifabriken, wandern die Bauern ab. Auch in Brachay zerfallen die Höfe. 60 Einwohner zählt die Gemeinde noch, dreimal weniger als nach dem Krieg. Es gibt hier nichts zu tun, nichts zu lachen: Die zwei lokalen Bistros haben seit langem geschlossen, mit ihnen die Bäckerei, der Käseladen, der Friseur. Die Straßen sind menschenleer, nur ein paar Vorhänge bewegen sich, wenn Fremde vorbeigehen.

Das einzig Neue ist ein riesiges Spruchband auf dem Dorfplatz: "Marine rettet Frankreich" steht darauf in säuberlichen Riesenlettern. "Das war mein Schwiegersohn", lacht Bürgermeister Gérard Marchand durch seine Zahnlücken, die zahlreicher sind als seine Zähne.

Andernorts wäre das Transparent zu Ehren von Marine Le Pen keine fünf Minuten hängengeblieben. Hier reißt es niemand herunter. Hier ist Frontgebiet, FN-Land. Hier stimmt man nicht nur im Versteckten für die Rechtsextremisten, hier steht man offen dazu. In Brachay sind die Frontisten nicht im Schmuddeleck, sondern in der Mehrheit.

Im siebenköpfigen Gemeinderat gehören fünf zum FN, zwei zur Linksfront. "Aber wir verstehen uns prächtig!", sagt Marchand. Und die französischen Großparteien, die Sozialisten und Konservativen, sind die hier nicht vertreten? "Die erhalten hier nicht mehr als eine oder zwei Stimmen", schätzt der Rindvieh- und Getreideproduzent, der letzte von einstmals elf Bauern im Ort.

Und warum wählen drei Viertel FN? Auf die Frage hat der Bürgermeister gewartet. "Die Rechte und die Linke haben wir schon versucht", erklärt Marchand. 1981 habe er den Sozialisten Mitterrand gewählt, und zwar "aus Überzeugung". Dessen Gegenspieler Valéry Giscard d'Estaing habe ihm vor der Wahl einen Scheck geschickt; den habe er einkassiert, aber nun erst recht Mitterrand gewählt. 1995 habe er es mit Jacques Chirac probiert. "Der gleiche Reinfall." Seit 2002 wählt Marchand Le Pen. Zuerst Jean-Marie, jetzt die Tochter Marine.

Letztere habe "coolere Ideen" als ihr Vater, findet der stämmige Bürgermeister, der Marine schon persönlich kennengelernt hat. Auf ihrer "Tour de France der Vergessenen" sei sie in Brachay vorbeigekommen. Erfreut, in der neuen FN-Hochburg auf so großen Zuspruch zu stoßen, habe sie ihm sogar bei einem Festanlass eine FN-Mitgliedskarte ausgehändigt.

Das hindert Marchand nicht, ein flammender Anhänger von Charles de Gaulle zu bleiben – jenes Generals, den Le Pen und viele Algerienfranzosen für die Aufgabe der Exkolonie hassen. De Gaulle stammte aus Colombey-les-deux-Églises, einem Dorf zwanzig Kilometer südlich von Brachay. "Als Kind sah ich ihn vor unserem Haus vorbeifahren", erinnert sich Marchand mit feuchten Augen. "Heute bräuchte Frankreich wieder einen General."

Unsicher im Dorf

Oder eine Generalin. Eine wie die coole Marine. Die will nicht nur die Grenzen für billige Agrarprodukte aus Amerika und Billiglöhner aus Litauen dichtmachen, sondern auch für alle Kriminellen. "Wollen Sie wissen, warum wir wirklich für den Front National stimmen?", fragt Marchand. "Wegen der Unsicherheit!" Den Terrorangriffen? Nein, hier in Brachay! Letzten Winter habe er nächtens selbst zwei fremde Diebe in seinem Haus gestellt und der Polizei übergeben, erzählt der 57-jährige Bürgermeister, der in der Umgebung auch "le shériff" genannt wird. Was meint er mit "fremd"? "Die kamen von auswärts", sagt er vorsichtig, um ungefragt anzufügen: "Ich bin kein Rassist."

Dann würde er also in Brachay zum Beispiel auch einen Migranten willkommen heißen, der eine der vielen leeren Wohnungen im Ort mieten und seine Klempnerdienste im Ort anbieten würde? Das wäre doch ein Beitrag gegen die Abwanderung ... Marchand überlegt. "Da müssen Sie schon die Leute selber fragen", meint er schließlich. "Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie begeistert wären. Sie sind nicht an dunkelhäutige Menschen gewöhnt."

Die erste Tür hinter dem Rathaus öffnet die Rentnerin Nicole. Im Flur prangen eine Frankreich-Flagge und die Heilige Theresa, dazu ein Bild von Marine Le Pen in jungen Jahren mit ihren Schwestern. Nicole hat etwas Mühe zu essen und zu sprechen, da ihr soeben ein Zahn ausgefallen ist. Und beim nächstgelegenen Zahnarzt bekommt sie erst in einem Monat einen Termin.

Noch einmal die Frage: Könnte Frankreich nicht versuchen, nach deutschem Vorbild Migranten in seine entvölkerten Landstriche zu holen? "Nein", meint Nicole, "wir wollen nicht, dass das hierherkommt." Das? "Die Ausländer, die Migranten, die Probleme, die Spannungen. In letzter Zeit haben die Diebstähle hier stark zugenommen. Es ist bekannt, wem das zuzuordnen ist. Die Täter kommen aus der Sozialsiedung in Joinville, zwölf Kilometer von hier."

Das Lokalblatt "L'est éclair" berichtet an diesem Tag allerdings nur von einem Mann, der seine Nichte vergewaltigte, acht Jahre Haft erhielt, aber nach sieben Monaten freikam; dazu von einem betrunkenen Autofahrer, der die Polizeikontrolle tätlich angriff und nicht einmal den Fahrausweis besitzt. Einheimische Franzosen, keine Ausländer. Für Nicole ist das kein Argument. "Hier fehlt es an Jobs. 15 Prozent Arbeitslose in der Gegend, dazu 25 Prozent auf dem Existenzminimum, das macht 40 Prozent Hoffnungslose", meint sie, "das genügt."

Hoffen auf Marine

Ein Haus weiter lebt Anthony mit seiner Familie, 27-jährig, derzeit Schichtarbeiter in einem verbliebenen Gießwerk. Wen er wählt? Natürlich Front National, die Partei, die längst nicht mehr nur in den Industriewüsten Nord- oder Ostfrankreichs zuschlägt, sondern auch auf dem Land. "Ich stehe früh auf, zahle meine Miete, dazu Sozialbeiträge, während andere auf der faulen Haut liegen und gratis Arzthilfe kriegen", begründet er seine Wahl, als habe er gerade ein FN-Flugblatt gelesen. "Heute ist es in Frankreich besser, Ausländer als Franzose zu sein."

Bei der Präsidentschaftswahl 2012, erzählt Anthony, habe er im Provinzhauptort Saint-Dizier selbst gesehen, wie Jugendliche mit Algerien-Fahnen François Hollandes Wahlsieg feierten. "Da sagte ich mir, jetzt sind wir echt in der Sch..." Dass die Maghreb- Jugend vor allem für Hollande stimmte, weil sie Rivale Nicolas Sarkozy als "Abschaum" bezeichnet hatte, überzeugt den jungen Vater nicht. "Auf jeden Fall wird Marine alles ändern, wenn sie einmal Präsidentin ist", meint er.

Nur in Brachay wird alles gleich bleiben: Hier ist Marine längst Präsidentin. (Stefan Brändle, 5.12.2015)